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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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gekommen und nun ganz sicher, dass da nicht die Pastorin lauerte. Für einen Moment überlegte ich, ob ich mich nicht am besten für die vollkommene Offensive entscheiden und geradewegs mit lautem Geschrei durch die Dunkelheit auf den Fremden zulaufen sollte. Aber mein ramponiertes Knie machte mir schon bei jeder leisen, vorsichtigen Bewegung zu schaffen.
    Dann, während ich noch nachdachte, wurde ich jeder Entscheidung enthoben. Zu spät ertastete mein rechter Fuß einen rechteckigen, ziemlich großen Ziegelstein vor mir, der da, wo er lag, absolut nicht hingehörte. Vielleicht war er vor Zeiten von irgendwelchen Bauarbeiten übrig geblieben. Ich geriet ins Stolpern, nicht so sehr, dass ich stürzte, aber heftig genug, dass ich einigermaßen laut aufstöhnte. Die Gestalt am Zaun, die ich an der richtigen Stelle vermutet hatte, zuckte zusammen und ließ dann, weil sie die Gefahr erkannt hatte, jede Vorsicht fahren. Mit schnellen, hektischen Schritten lief sie durch die Finsternis den Weg zurück. Ich eilte zum Tor, öffnete es und meinte zu erkennen, dass die Gestalt tatsächlich eine Waffe bei sich trug und sich genauso ungelenk bewegte, wie es der Mann auf dem Steg getan hatte. Doch ohne meine Taschenlampe, die im Haus auf der Fensterbank stand, hatte ich keine Chance, Genaueres zu erkennen. Ich versuchte aber, mir die seltsame Schrittfolge des Flüchtenden einzuprägen. Seine Schritte verrieten, dass er eine Behinderung aufwies. Jemand, der einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, der gezwungen war, ein Bein ein wenig nachzuziehen, mochte sich so schleppend bewegen.
    Ein paar Augenblicke später hörte ich, wie ein Motor gestartet wurde, wahrscheinlich von einem Roller oder einem kleineren Motorrad. Das war also das Licht gewesen, das ich bemerkt hatte. Mein ungebetener Gast hatte in einiger Entfernung des Hauses ein Motorrad abgestellt, um rasch fliehen zu können. Erst als das Motorrad die Dorfstraße erreicht hatte, flammte ein Scheinwerfer auf, und ich sah, wie ein roter Lichtpunkt rasch kleiner und kleiner wurde und schließlich verschwand.
    Ira war gelegentlich in die Kirche gegangen, meistens zur Weihnachtszeit; aber es hatte immer eine katholische Kirche sein müssen. Sie liebte den Duft von Kerzen und Weihrauch. Ich wusste, dass sie an seinem Todestag auch jedes Mal eine Messe für Martin lesen ließ. Insgeheim war sie auf eine altmodische Art religiös, sie glaubte sogar an Engel und Wunder, auch wenn sie es mir gegenüber niemals zugegeben hätte. Nur mich schloss sie nie in ihre Wundergläubigkeit ein. Von mir erwartete sie kein Wunder. Es war seltsam, ich hatte fast dreißig Jahre lang mit ihr zusammengelebt, aber seit sie aus meinem Leben verschwunden war, begriff ich vor allem, wie wenig ich sie gekannt hatte. Eigentlich hatte ich nicht einmal gewusst, womit sie ihre Zeit verbrachte, welche Bücher sie las oder ob sie noch malte. Wahrscheinlich hätte sie über Wochen und Monate einen Geliebten haben können, ohne dass es mir aufgefallen wäre. Einmal hatte ich Ira unerkannt in der Stadt gesehen. Wie eine fremde Frau in einem eleganten, cremefarbenen Mantel war sie den Gehsteig entlanggehastet. Ich hatte Ochs den Wagen halten lassen und war ihr gefolgt. Es war wie ein aufregendes Spiel gewesen, Ira hinterherzulaufen. Ich war fast sicher gewesen, dass siesich heimlich mit einem Mann traf, und hatte mich gefragt, wie ich reagieren würde, wenn ich die beiden zusammen sah. Wie war es, wenn Ira einen anderen Mann umarmen und küssen würde? Doch dann war sie nur zu einer Klavierlehrerin gegangen. Ich hörte ihr Spiel durch das offene Fenster; es klang ängstlich und schüchtern. Als ich sie abends bat, sich wie früher wieder einmal ans Klavier zu setzen und zu spielen, tat sie so, als wäre das vollkommen abwegig, als hätte sie seit hundert Jahren nicht mehr an ihrem Flügel gesessen.
    Die Dorfkirche war nur zu einem Viertel gefüllt. Ich hatte mich still und leise in die letzte Reihe gesetzt, um möglichstwenig Aufsehen zu erregen. Die alte Frau vom Friedhof schien mich jedoch erwartet zu haben. Sie bemerkte mich sogleich und winkte mir zu, als wären wir Komplizen. Vor mir saßen ein paar ältere Frauen, einzelne Männer in steifer Sonntagskleidung und ein paar gelangweilt aussehende Kinder. Den Jungen konnte ich nirgends entdecken. Es hätte mich aber auch eher verwundert, ihn als braven Sohn in der ersten Reihe zu sehen.
    Die Pastorin gab durch nichts zu erkennen, dass sie irgendwann während

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