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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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der Messe meine Anwesenheit registriert hatte. Ein hübsches Mädchen mit dunkler Haut, die so gar nicht in diese Gegend passte, assistierte ihr. Die Lieder, die gesungen wurden, dieser feierliche protestantische Ernst waren mir fremd. Ich konnte mich auch nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Gottesdienst gewesen war. Es hatte ein paar unvermeidliche Beerdigungen in den letzten Jahren gegeben, der Tod zweier enger Mitarbeiter, das pompöse Begräbnis meines Vaters, ein, zwei Bestattungen im weiteren Bekanntenkreis, doch der letzte Besuch einer Messe musste Jahrzehnte zurückliegen.
    Am Ende des Gottesdienstes, während der Organist oben auf dem Orgelboden sein Schlusslied anstimmte, zog die Pastorin mit gemessenen Schritten durch den Mittelgang und postierte sich vor der Weihnachtskrippe an der Kirchentür. Ich hatte keine Ahnung, ob sie ihre Gemeinde immer so verabschiedete, aber insgeheim glaubte ich, dass sie es meinetwegen tat.
    Ich wartete. Die Kirche leerte sich nur langsam. Manche der Besucher warfen mir misstrauische Blicke zu. Natürlich hatten sie mich alle längst entdeckt. Auch der Tankwart, der mir das Holz gegeben hatte, schob sich an mir vorbei. Mit düsteren, ernsten Augen schaute er mich an. Eine rätselhafte Feindseligkeit meinte ich in seinem Gesicht zu lesen, aber vielleicht ließ ihn auch nur sein grauer, schrecklicher Sonntagsmantel so fremd erscheinen. Als ich ihm zunickte, wandte er sich ab. Die Pastorin nahm seine Hand und hielt sie einen Augenblick zu lange, was ihn verlegen machte, weil er noch immer meinen forschenden Blick auf sich spürte. Gaben sie sich wie ein heimliches Liebespaar die Hand? Nein, der Tankwart war kein Mann, für den sich die Pastorin ernsthaft interessiert hätte.
    Dann war ich der Letzte in der Kirche. Durch die offene Tür fielen ein paar spärliche Sonnenstrahlen herein; für einem Moment sah es aus, als würde die Pastorin auf einer winzigen Insel aus Licht stehen. Auf dem Vorplatz waren einige Kirchenbesucher zurückgeblieben und unterhielten sich. Ich sah, wie sich der Tankwart auf einen weißen Motorroller setzte, startete und davonfuhr, nicht ohne sich noch einmal nach der Pastorin umzudrehen. Unwillkürlich musste ich an die Gestalt denken, die sich in der Nacht zum Haus geschlichen hatte. Konnte der Tankwart einen Grund haben, Licht töten zu wollen?
    »Schön, dass Sie gekommen sind.« Die Pastorin lächelte und nahm meine Hand, als wäre sie aus Glas und als müsste sie ganz besonders vorsichtig sein. Ich mochte, wie sie meine Hand hielt. »Tut mir Leid, dass ich Sie gestern versetzt habe, aber ich musste dringend zu einer Sterbenden.«
    »Dann waren Sie nicht wieder auf der Suche nach Ihrem Sohn?« Ich sprach genauso leise wie die Pastorin, als wollten wir beide nicht, dass irgendjemand draußen auf dem Kirchplatz etwas von unserem Gespräch mitbekam.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal nicht. Vorgestern Abend ist Mark ausnahmsweise von allein wieder aufgetaucht.« Endlich ließ sie meine Hand los und hielt mir, wie eine Zauberin im Varietee, Lichts lange graue Feder entgegen, die ich ihr unter die Tür geschoben hatte. »So ein originelles Geschenk habe ich schon lange nicht mehr bekommen.«
    »Ehrlich gesagt, hatte ich nichts anderes, was ich Ihnen hätte mitbringen können«, erwiderte ich. Wann war ich das letzte Mal so verlegen gewesen? Es gab viele Dinge, die ich verlernt hatte.
    Die Pastorin lächelte wieder, doch plötzlich glitt ihr Blick an mir vorbei und richtete sich ins Innere der Kirche, auf die Treppe, die zum Orgelboden hinaufführte. Die Schritte, die erklangen, waren kaum zu hören. Kein Erwachsener würde sich so elegant und beinahe schwerelos bewegen. Ich wusste, dass der Junge die Treppe herunterkam, noch bevor ich seine weißen Turnschuhe sah. Er hatte also noch andere Talente, als mir nachzuschleichen und sich zu verstecken. Er beachtete mich und seine Mutter nicht, strafte sie mit kalter Verachtung, obwohl er uns natürlich längst bemerkt und vermutlich sogar belauscht hatte, und lief in Richtung Sakristei.
    Die Pastorin schaute ihm mit ernster Miene nach, dann sagte sie: »Wenn es Ihre Zeit erlaubt, könnten wir jetzt unsere Verabredung nachholen.«
    Ich nickte, ohne ein Wort zu entgegnen. Die Besorgnis über ihren Sohn ließ ihre Stimme dunkel und traurig klingen.
    Die letzten Kirchenbesucher hatten den Vorplatz verlassen. Lediglich die freundliche Alte, die mich zur Messe eingeladen hatte, machte sich

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