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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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gibt, muss er so aussehen, dachte ich plötzlich, überrascht von mir selbst. Ich fing an, die Ruhe des Dorfes zu verstehen, und schaffte es sogar, eine Weile nicht an die Pastorin zu denken. Erst später, während ich Wein trank und das Feuer herunterbrannte, begann ich mir wieder Sorgen zu machen. Schwere Gedanken sind wie Stürme; sie können einen sonst wohin treiben. Ich würde nach Spuren suchen müssen, die der Mann der Pastorin im Haus hinterlassen hatte, möglicherweise existierte mehr als dieser eine Abschiedsbrief, und ich würde die Wahrheit herausfinden, ohne allzu viele Fragen stellen zu müssen.
    Viel später, als das Feuer völlig heruntergebrannt war, trieb mich die Kälte ins Haus. Ich war müde und hoffte auf ein paar Stunden ungestörten Schlaf, als ich vom Küchenfenster plötzlich auf dem Weg zum Dorf einen hellen Lichtschein wie von einer Taschenlampe sah. Einen Augenblicklang dachte ich an die Pastorin. Wollte sie mir so spät noch einen Besuch abstatten? Doch da, ganz abrupt erlosch das Licht. Nichts war mehr in der Nacht zu sehen. Hatte ich mich so sehr getäuscht, oder wollte sich da jemand unauffällig dem See nähern?
    Ich ging hinaus, schlich um das Haus herum, postierte mich in der Dunkelheit und wartete. Wieder waren keine Sterne am Himmel zu sehen. Das einzige Licht, das zu mir herüberdrang, stammte von zwei weit entfernten Laternen auf der Dorfstraße. Ich hatte mich nicht getäuscht. Leise Schritte waren zu hören. Jemand ging langsam über die vereiste Straße auf das Grundstück zu. Dass ich einen Schatten ausmachte, der am Tor verharrte, wäre eine Übertreibung gewesen. Ich glaubte, einen Schemen zu ahnen, glaubte, mit einem sechsten Sinn zu spüren, dass jemand auf ein Lebenszeichen lauschte, darauf, dass er einen Laut aus dem Haus vernahm. Die Pastorin hätte sich nicht so merkwürdig und voller Zögern verhalten; auch dass ihr Junge um diese Zeit noch durch das Dorf lief, hielt ich für unwahrscheinlich.
    Allerdings mochte es noch einen guten Grund geben, warum jemand sich auf das Grundstück schleichen wollte, und dieser Grund hatte gar nichts mit mir zu tun. Es ging um Licht, meinen Fischreiher, dem jemand am liebsten den Hals umgedreht oder eine Kugel in den Leib gejagt hätte.
    Die Gestalt rührte sich nicht. Sie schien sogar den Atem anzuhalten. Ich versuchte die Entfernung zum Tor abzuschätzen; es mochten zwanzig Schritte durch eine beinahe totale Finsternis sein. Doch wenn ich nicht näher herankam, hatte ich keine Chance zu erkennen, wer sich da so gefährlich unauffällig herangeschlichen hatte. Ich machte einenvorsichtigen Schritt, dann noch einen. Wie ein Blinder, der über brüchiges Eis lief, tastete ich mich vor. Das Gras unter meinen Füßen war gefroren und verursachte ein Geräusch, als würde ich über Kies laufen. Als ich vier Schritte gemacht hatte, glaubte ich zu erkennen, dass die Dunkelheit vor mir an einer Stelle noch gedrängter und kompakter aussah, ein tiefschwarzer Fleck in schwarzer Nacht.
    Dann regte sich die Gestalt, bewegte sich beinahe lautlos den Weg hinauf, am Zaun entlang, und ich konnte mir wirklich sicher sein, dass mich meine Ahnungen nicht getrogen hatten. Jemand hatte sich diese späte Stunde ausgesucht, um sich meinen Fischreiher vorzunehmen, doch zu seinem Unglück war diese Nacht so dunkel, dass er ganz nahe an den Vogel herankommen musste, um ihn zu erledigen.
    Meine Erschöpfung, die vor ein paar Minuten noch so stark gewesen war, dass mir die Augen zugefallen waren, hatte sich in Luft aufgelöst. Ich fühlte mich auf eine intensive Weise wach, wie ich es lange nicht mehr gewesen war. War der Angreifer bewaffnet? Glaubte er mit seiner Flinte auf den Reiher anlegen zu können, um dann schnell wieder zu verschwinden, bevor ich auf der Bildfläche erschien?
    Ich schritt weiter durch die Dunkelheit. Ich musste etwas tun, was ich immer vermieden hatte, weil es mir stets als zu unvernünftig vorgekommen war: Ich musste auf meine Instinkte vertrauen. Irgendwo zwei Schritte links von mir war das Haus, und vor mir lag ein gutes Stück Wiese, etwa fünfzehn Meter bis zum Zaun. Meine Blicke gruben sich in die Dunkelheit, versuchten mehr als einen Schattenriss wahrzunehmen. Plötzlich glaubte ich, die Gestalt husten zu hören, nein, kein Husten, vielmehr einhektisches, nervöses Schlucken, als hätte sie vor Aufregung, weil sie nicht jeden Tag ein Tier töten wollte, einen falschen Atemzug getan. Ich war dem Eindringling schon recht nahe

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