Das Winterkind
lesen. Ja, das wäre auch eine gute Frage gewesen: Licht, was siehst du, wenn du mich anschaust?
Ich hatte eigentlich nie gewusst, wie ich wirkte, was andere in mir sahen. War ich attraktiv oder hässlich, sympathisch oder eher Furcht erregend? Ira hatte es als ihre Aufgabe angesehen, mir jedes halbe Jahr ein paar neue Anzüge zu kaufen, aber sonst hatte sie nie ein Wort über mein Aussehen verloren, und die jungen Damen, die Ochs anschleppte, wurden dafür bezahlt, dass sie mich für ein paar Stunden liebenswert fanden. Wenn ich ehrlich war, hatte es nur eine Rolle gegeben, die ich wirklich beherrscht hatte: Chef einer großen, berühmt gewordenen Schokoladenfabrik zu sein.
»Kein tröstlicher Gedanke«, sagte ich zu Licht, der mich aber gar nicht beachtete, sondern den Käfig absuchte, in der Sorge, ein schönes Stück Fisch übersehen zu haben. »Man ist dreiundfünfzig Jahre alt und stellt plötzlich fest, dass man gar nicht weiß, wer man ist. Ich kann dir alles über das Veredeln von Schokolade erzählen, bei welcher Temperatur sie richtig reift, wie der Conchierungsprozess aussieht, aber über mich selbst kann ich dir keine Auskunft geben.«
Der Vogel hielt plötzlich inne und schaute mich an. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als wären seine Augen genau auf mich ausgerichtet, wie präzise, hoch empfindliche Sensoren, die mich vermaßen, dann wandte er sich wieder ab und stolzierte durch seinen kleinen Käfig. Er schien sich an seine Gefangenschaft gewöhnt zu haben; nur noch hin und wieder versuchte er, mit den Flügeln zu schlagen.
Ich beobachtete ihn, und auch Licht warf mir gelegentlichkleine Blicke zu, als wollte er ganz verstohlen feststellen, ob ich noch dasaß. Licht war ein Einzelgänger. Ich hatte keine Ahnung, wie es im Sommer am See aussah, ob es hier dann vor Fischreihern nur so wimmelte, aber wenn er Gefährten gehabt hatte, mussten sie längst in den warmen Süden davongeflogen sein.
Als ich ins Haus ging, blickte Licht mir freundlich nach, wenigstens kam es mir so vor.
»Ich habe keine Zeit mehr«, rief ich ihm zu und las eine lange, graue Feder auf, die der Wind aus seinem Käfig geweht hatte. »Die Pastorin erwartet mich.«
Ich rasierte mich, und dann zog ich die letzten sauberen Kleidungsstücke an, die mein Koffer noch hergab: eine schwarze Hose, ein graues, schlecht gebügeltes Hemd, weil ich das selbst erledigt hatte, und das einzige Jackett, das ich eingepackt hatte, bevor ich zum See geflohen war. Erst dann fiel mir ein, dass ich im Supermarkt nur an den Reiher und meine Vorräte gedacht, aber kein unverfängliches Geschenk für die Pastorin gekauft hatte; nichts, keine Flasche Wein, nicht einmal eine Schachtel Pralinen. Für solche Dinge war immer Ira zuständig gewesen. Das Einzige, was ich bei meinem Besuch mitbringen konnte, war Lichts graue Feder.
Der Weihnachtsbaum vor der Kirche brannte. Er war mit einfachen elektrischen Kerzen geschmückt, nur oben auf der Spitze schwebte ein pausbäckiger Engel und blies stumm in eine goldene Trompete. Die Pastorin hatte of-fensichdich einen leichten Hang zum Kitsch.
Ich schaute mich nach dem Jungen um, während ich zum Pfarrhaus ging; er schien mir nirgendwo aufzulauern. Seine Mutter dürfte ihm auch kaum gesagt haben, dass siemich zum Tee eingeladen hatte. Ich sah lediglich eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, die auf dem Friedhof eine Tanne mit bunten Kugeln schmückte, als stände der Baum in ihrem eigenen Wohnzimmer. Über dem Friedhof zog schon die Dunkelheit herauf.
Vorsichtig legte ich meinen Finger auf den einzigen Klingelknopf. Kein Name war an der Tür zu lesen, als müsste jedem Besucher vollkommen klar sein, zu wem er hier ging. Ich hörte ein lautes Schellen, das durch das ganze Pfarrhaus lief und seine Bewohner auch noch im hintersten Winkel aufschrecken musste.
Ich hatte mir keine ersten Worte zurechtgelegt. Was sollte ich sagen, wenn die Pastorin überrascht reagierte, dass ich tatsächlich vorbeigekommen war? Sollte ich ihr wirklich die Feder überreichen? Oder war es nicht albern, jemandem, den man kaum kannte, die lange, graue Feder eines Fischreihers zu schenken?
Nichts rührte sich im Haus. Keine Schritte näherten sich, kein Licht wurde angeschaltet. Ich drückte noch einmal auf den Klingelknopf und versuchte durch das winzige Fenster in der Tür zu spähen.
»Sie ist nicht da«, sagte eine Stimme hinter mir, die mich zusammenzucken ließ.
Die Frau vom Friedhof stand hinter mir. Aus der Nähe
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