Das Winterkind
diese Depression war so simpel, dass selbst ich ihn verstand. Am letzten Heiligen Abend, vor dem wir uns jeder auf seine Art schon Tage zuvor gefürchtet hatten, hätte ich sie am liebsten durchgeschüttelt und angeschrien. »Ich kann nichts dafür, dass unser Sohn mit acht Jahren gestorben ist. Es war auch nicht meine Schuld, dass wir kein zweites Kind mehr bekommen haben.« Sie hatte die Ohrringe, die mich ein kleines Vermögen gekostet hatten, ausgepackt, den Mund zu einem halben Lächeln verzogen und den Schmuck dann achtlos beiseite gelegt. Ein Gedanke war an diesem Weihnachtsfest immer wiedergekehrt; der Eindruck, dass ich Ira an das größte Unglück ihres Lebens erinnerte und dassdieses Unglück mit der Zeit immer größer wurde, statt allmählich in einem weichen Vergessen zu verschwinden. Aber niemand kann sein Leben lang diese lähmende Trauer aushalten.
Eine Frage hatte ich Ira niemals gestellt, obwohl sie mir manchmal riesengroß und quicklebendig durch den Kopf spukte, wenn ich abends allein in einer Hotelbar hockte oder wenn ich mit ein, zwei hübschen Mädchen zusammensaß, die Ochs mir besorgt hatte, und ich geradewegs auf den Punkt zusteuerte, an dem sie mich zu langweilen begannen, weil sie viel zu jung waren und von meinem Leben weniger als nichts verstanden. Die Frage war von einer tiefen Schlichtheit, wie überhaupt alle wichtigen Dinge im Grunde ganz einfach sind. Wann genau hast du aufgehört, mich zu lieben?, wollte ich Ira fragen. Weißt du noch, wo du gewesen bist und was du getan hast, als dir die Erkenntnis kam, dass du mich nicht mehr liebst? Und wie hat sich diese Erkenntnis angefühlt, oder kam sie dir ganz beiläufig, wie etwas, das du schon lange gewusst, dir aber nie wirklich vor Augen gehalten hast?
Doch nun, während ich in dieser Hotelpension saß und einen zweiten Kognak orderte, damit mir endlich einmal wieder richtig warm wurde, begriff ich, dass ich mir eine andere Frage hätte stellen sollen. Wann hatte ich aufgehört, Ira zu lieben? Wann war die Fabrik zu meinem Leben geworden, weil ich gar kein anderes mehr besaß?
Von meinem Fenster beobachtete ich, wie ein Mann das Pfarrhaus verließ, den man für einen ordentlichen Finanzbeamten oder für einen Arzt halten konnte, der zu einem dringenden Hausbesuch gerufen worden war. Er hatte graue, streng gescheitelte Haare und trug eine schwarze Aktentasche. Hinter ihm trat die Pastorin auf den Kirchplatz.Sie wirkte müde und besorgt, aber nicht besonders aufgeregt. Also schien ihr Sohn keinen Arzt gebraucht zu haben.
Einigermaßen überrascht verfolgte ich, dass Hedda den Mann an seinem Wagen, einem dunklen Audi, verabschiedete und dann auf die Hotelpension zusteuerte. Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. Ein paar Schneeflocken tanzten um sie herum, bevor sie sich auf ihr rotes Haar setzten. Sie lächelte mir schon zu, während sie die Straße überquerte, beinahe so, als hätte sie mich genau hier erwartet.
Ich schaffte es noch, die Zeitung mit meinem Bild zusammenzulegen, bevor Hedda hereinkam. Sie schüttelte ihr nasses Haar aus und bestellte sich einen Milchkaffee.
»Sehen Sie mich nicht so überrascht an«, sagte sie, während ich ihr einen Stuhl zurechtrückte. »Ich bin keine Hellseherin. Ich habe nur zufällig beobachtet, wie Sie hier hereingegangen sind, und dachte, ich leiste Ihnen einen Moment Gesellschaft.«
»Ein guter Gedanke.« Ich sah ihre kalten, rosigen Hände und hätte sie am liebsten genommen und gewärmt. »Ich habe Sie auch beobachtet, zusammen mit diesem Mann, der wie ein Arzt aussah. Ihrem Sohn geht es hoffentlich gut?«
Hedda lächelte. Meine vorsichtige Neugier schien ihr zu gefallen. Die Serviererin brachte ihr den Milchkaffee, nicht ohne uns allerdings einen überaus fragenden Blick zuzuwerfen. Hedda legte ihre Hände wärmesuchend um die Tasse. »Diesen Buchhalter haben mir die Kirchenoberen auf den Hals gehetzt. Nach Michaels Tod ist er alle meine Akten durchgegangen und hat jedes Konto, jede kleinste Buchung überprüft. Irgendjemand hat den Verdachtgeäußert, Michael hätte Geld der Kirche unterschlagen. Dabei wäre ihm so etwas nie eingefallen.«
»Ihr Mann hat Sie ziemlich in Schwierigkeiten gebracht.« Ich bedauerte meinen Satz, kaum dass ich ihn ausgesprochen hatte. Doch Hedda schien ihn mir nicht übel zu nehmen.
Sie nickte, den Kopfüber ihre Tasse gebeugt. »Den Jungen hat es viel schlimmer getroffen. Ich habe nur Probleme mit meiner Gemeinde und den Presbytern.«
»Ich
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