Das Winterkind
musste.
In der Hotelpension ließ ich mir wieder ein großes Frühstück bringen, und dann tat ich etwas, das ich seit mehr als vier Wochen nicht mehr getan hatte. Ganz beiläufig, wie ein gewöhnlicher Hotelgast, dem seine frühe Mußestunde über alles ging, griff ich nach einer Zeitung. Ich trank Kaffee, las die Schlagzeilen, schaute mir ein paar Aktienkurse an und entdeckte dann mein eigenes Foto. Das heißt, zunächst blickte ich über mich selbst hinweg, erkannte mich nicht sofort. Das Foto musste auf einer Lebensmittelmesse vor ein paar Jahren aufgenommen worden sein. Wie ein adretter, unverhohlen ehrgeiziger Verkäufer posierte ich unter unserem kantigen, beinahe Furcht erregenden Logo: teurer Maßanzug, dezente Krawatte, weißes Hemd, modische Brille. Dem Fotografen zuliebe versuchte ich mich sogar an einem Lächeln, obwohl in meinen Augen ein Ausdruck von Erschöpfung stand, als hätte ich am Tag zuvor bis weit nach Mitternacht an wichtigen Meetings teilgenommen. Inzwischen glaubte ich ganz anders auszusehen; ich hatte in meiner Zeit am See ein paar Kilo abgenommen; mein Haar war dünner und grauer geworden.
Schon als ich die ersten Zeilen des kurzen Artikels las, zu dem mein Foto gehörte, wusste ich, dass ich einen Fehler beging: Sanierung beschlossen , stand da. Die Aussichten, die Graf-Fabriken doch noch zu retten, gelten als gut. Es ist mehr Substanz vorhanden als ursprünglich vermutet, verlautete nach einer längeren Sitzung in Frankfurt aus Bankenkreisen. »Die Gläubiger haben unsere Pläne zustimmend zur Kenntnis genommen«, erklärte der Insolvenzverwalter. Man werde aller Voraussicht nach deutlich mehr als die Hälfte der 1.500 inländischen Arbeitsplätze retten können. Auch für die Übernahme der ausländischen Werke gebe es schon ernsthafte Interessenten. Ein großer amerikanischer Konzern habe bereits ein Angebot gemacht.
Ärger steht allerdings dem bisherigen Besitzer Ludwig Graf ins Haus. Die Staatsanwaltschaft untersucht den Vorwurf der Konkursverschleppung. Informell hieß es, eine Anklage werde vorbereitet. Im Falle einer Verurteilung könnte ihm eine längere Haftstrafe drohen. Graf selbst gilt als untergetaucht, während seine Ehefrau am Wochenende von einem längeren Urlaub zurückgekehrt ist.
Ich legte die Zeitung beiseite. Draußen lief ein herrenloser Hund über den Kirchplatz. Die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum brannten; einige verlorene Schneeflocken glänzten auf den Zweigen. Von einer hübschen Serviererin, die sich ein paar rote Strähnen in ihr blondes Haar gefärbt hatte, ließ ich mir einen Kognak bringen. Anscheinend hatten ein paar Leute ein mächtiges Interesse daran, mich nicht nur finanziell fertig zu machen, sondern meinen Ruf komplett zu ruinieren. Was hätte mein Vater an meiner Stelle getan? Die Antwort war einfach: Er wäre sofort in die Fabrik gefahren und hätte mit seinen bewährten Methoden der Einschüchterung und des Schweigens gründlich mit ein paar dreisten Lügen aufgeräumt. Nein, dachte ich dann, vielleicht hätte er genau das nicht getan. Er wäre am See geblieben, er hätte Brahms gehört, die Wolken am Himmel betrachtet und abgewartet, weil die Vorwürfe lächerlich waren und vermutlich von Konkurrenten lanciert wurden, die eine schnelle Lösung verhindern wollten.
Dass Ira von den Kanaren in die eisige deutsche Kälte zurückgeflogen war, bereitete mir allerdings Sorgen. Wasbedeutete das? Hatte der junge Borger sie zurückgerufen, weil ihr fünf Prozent der Firma gehörten? Dabei hatte sie sich niemals um das Geschäft gekümmert. Mitunter in der Nacht hätte ich gerne ein paar Worte mit ihr gewechselt, sie konnte klug und verständnisvoll sein, wenn sie in guter Stimmung war, aber nun musste ich befürchten, dass sie hier am See auftauchen würde, um mit mir über die Fabrik und unsere Zukunft zu sprechen. Ich vermochte mir viele Dinge vorzustellen; Ira in meinem kalten, zugigen Haus zu sehen gehörte nicht dazu.
Besonders in der Weihnachtszeit hatte Ira die Angewohnheit, sich in einer tiefen Depression zu vergraben. Zu Beginn der Adventszeit war sie immer noch ganz aufgekratzt; da ließ sie es sich nicht nehmen, in unserem Kindergarten für die Werksangehörigen eine Feier auszurichten. Sie spielte die alle liebende, große Mutter, die Geschenke verteilte und Geschichten vorlas. Doch je näher der Weihnachtsabend kam, desto mehr Dunkelheit legte sich über sie. Ihr Schweigen war schließlich kaum mehr auszuhalten. Der Grund für
Weitere Kostenlose Bücher