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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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allein am See verbracht und ein paar neue Erfahrungen gesammelt. Die Fähigkeit, allein zu sein, kann jeder Mensch lernen, genauso wie man schwimmen oder Auto fahren lernen kann.
    Ich hörte Lichts Krächzen schon von weitem; es klang nicht panisch oder wie ein Warnruf, sondern eher freundlich interessiert. Konnte er mich schon auf eine gewisse Entfernung hin spüren? War es der Hunger, der ihn zur Unruhe trieb, oder doch eine Gefahr, in der er sich befand? Ich beeilte mich, kam aber bemitleidenswert langsam voran. Den Rest des Tages würde ich mit hochgelegtem Bein am Fenster verbringen und heißen Kaffee trinken, bis ich irgendwann in einen tiefen Schlaf fallen würde.
    Licht war nicht allein, und sein Krächzen hatte auch nicht mir gegolten. Der Junge stand an seinem Käfig und hielt ihm ein paar Grashalme hin. Neugierig ruckte derKopf des Vogels vor. Er begann vorsichtig an den Gräsern zu picken. Doch im nächsten Moment, vielleicht weil er mich bemerkt hatte oder weil er seinen Hunger weit lieber mit Fischen stillte, wich er wieder in eine Ecke seines Geheges zurück. Der Junge hatte mich noch nicht gehört. Er versuchte erneut, Licht heranzulocken, indem er seinen Arm mit den Gräsern ein Stück weiter in den Käfig schob. Ein selbstvergessener, friedlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, so als existierte in diesem Augenblick für ihn nur der Vogel und er selbst. Dann, während ich auf der gefrorenen Wiese einen Schritt näher kam, drehte er sich um.
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Jungen ansprechen sollte. Mit Kindern hatte ich in den letzten Jahren wenig Umgang gehabt. Ich wusste durch viele Umfragen, welche Schokolade sie mochten, was sie in ihrer Freizeit am liebsten aßen und welchen Schokoriegel sie bevorzugten, aber was so ein Kind wirklich dachte, wusste ich nicht. Einerseits war ich froh, den Jungen bei einem so harmlosen Spiel zu sehen, andererseits machte mich der Gedanke wütend, wie schroff er mit seiner Mutter umging und dass er in mein Haus eingedrungen war, gleichgültig, was hier mit seinem Vater vorgefallen war.
    Der Junge schien in seiner Drehung zu mir hin festgefroren zu sein. Er rührte sich nicht; lediglich sein Gesichtsausdruck hatte sich verdüstert, als hätte es ihn von einer Sekunde auf die nächste wieder in die dunkle Welt der Erwachsenen verschlagen.
    Mühsam unterdrückte ich ein Humpeln und machte drei weitere Schritte auf ihn zu. Ich hob meine Hände, wie in einem Film, wenn der Schurke sich einem Polizisten nähert und ihm zeigen will, dass er unbewaffnet ist. »Der Vogel hat sich den Flügel verletzt«, setzte ich mit ruhigerund, wie ich meinte, einschmeichelnder Stimme an. Vor mir brauchte der Junge keine Angst zu haben. »Ich kümmere mich um den Fischreiher, füttere ihn und gebe ihm zu trinken, bis er wieder gesund ist, weißt du?«
    Der Junge starrte mich misstrauisch an und betrachtete gleichzeitig die Wiese vor ihm, die Entfernung zwischen ihm und mir, als gäbe es da eine unsichtbare Grenzlinie, die ich nicht überschreiten dürfte.
    »Ich habe dem Vogel auch schon einen Namen gegeben«, fahr ich in scheinbarem Plauderton fort. »Willst du wissen, wie ich den Vogel genannt habe?«
    »Reden Sie nicht so mit mir!« Die Stimme des Jungen klang viel älter, als ich es erwartet hatte. »Und lassen Sie meine Mutter in Ruhe!«
    Er ließ mir keine Zeit mehr, etwas zu entgegnen, sondern sprang an mir vorbei und lief um das Haus herum zum Tor. Auch Licht schien der abrupte Abgang des Jungen zu verwirren. Er stieß ein kehliges »Kraik, Kraik« aus und flatterte mit den Flügeln, als hätte er nun endgültig genug davon, nur im Käfig auf und ab zu stolzieren, statt sich majestätisch in die Lüfte zu erheben, wie es ihm eigentlich zustand.
    »Ruhig, Licht«, sagte ich und blickte ihm in seine schwarzen Augen. »Ich muss mich erst aufwärmen und einen Kaffee kochen, bevor ich deinen Käfig sauber machen und dir dein Fressen bringen kann.«
    Licht stieß ein weiteres heiseres »Kraik« gen Himmel. Irgendwo im Westen lauerte schon wieder die Abenddämmerung.
    Warum ist die Nacht in den Wintermonaten so lang? Damit sie Zeit genug hat, einem ein paar Dinge zu erzählen,die man sonst gar nicht hören will. Ich hatte es immer geschafft, Dinge, die ich nicht sehen wollte, nicht zu beachten. Wie ein Rennfahrer, für den kein Stoppschild galt, war ich durch mein Leben gerast. Bis der junge Borger mir an einem Freitag vor fast vier Wochen das klare, stahlharte Nein überbracht

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