Das Winterkind
hatte. Nein, es würde kein neues Geld mehr geben. Nein, es hätte keinen Sinn mehr, Gespräche mit den Banken zu führen. Bis um zehn Uhr am Montagmorgen hätte ich mein Büro zu räumen. Wenn es einen Neuanfang für die Fabriken gäbe, dann ohne mich auf dem Chefsessel. Ich hörte meinen Vater in dieser Sekunde meines Untergangs. Er sagte kein Wort; er schnaubte nur, ein langes, tiefes Ausatmen voller Verachtung, wie er es immer getan hatte, wenn ihm etwas besonders missfiel.
Ich stellte das kleine Transistorradio an, das ich mir gegen die Stille gekauft hatte, und suchte einen Sender, der angenehme klassische Musik brachte. Mit einem Glas Wein versuchte ich es mir im Haus so angenehm wie möglich zu machen, aber irgendwie hatte der Auftritt des Jungen mir die Laune gründlich verdorben. Am liebsten hätte ich Hedda angerufen und sie gebeten, besser auf ihren Sohn Acht zu geben. Dann dachte ich daran, dass er wahrscheinlich hier im Haus seinen Vater suchte, weil der genau in diesen drei hässlichen, muffigen Räumen sein Leben weggeworfen hatte. Aber den Grund hatte ich nicht erfahren. Wie konnte ein Mann eine so kluge und schöne Frau wie Hedda allein lassen? Außerdem hatte er auch sie ins Unglück gestürzt. Der Mann einer Pastorin ein Selbstmörder – kein Wunder, dass Hedda völlig am Ende war.
Ich begann nach weiteren Spuren zu suchen. Es war merkwürdig zu wissen, dass ich in einem Haus lebte, indem ein Mensch sein Leben verloren hatte. Ich hatte kein Bild von diesem Michael Conrad vor Augen, und trotzdem meinte ich gelegentlich, einen vagen Schatten wahrzunehmen, als bewegte sich noch jemand mit mir im Raum, als wäre da noch jemand, der nicht ganz verschwunden war. Nach einer Stunde gab ich meine Suche ermattet auf. Ich fand keine Spuren, keinen zweiten Brief, auch nichts, was auf den Tod eines Menschen hinwies oder erklärte, wie er möglicherweise ums Leben gekommen war.
Die Nacht war wie eine leere, dunkle Höhle. Ich sah Licht vollkommen bewegungslos in seinem Käfig stehen, ein grauer Fleck, umgeben von totaler Dunkelheit. Leichtfertig hatte ich vergessen, mich gegen ungebetenen Besuch zu wappnen. Was sollte ich tun, wenn der Gewehrschütze wieder auftauchte? Ein paar Stolperdrähte spannen oder trotz meiner Müdigkeit die ganze Nacht am Fenster verbringen?
Ich nahm einen Fisch und trat wieder in die eisige Nacht hinaus. Licht würde auf ein paar Annehmlichkeiten verzichten müssen, wenn ihm sein Leben lieb war. Ich warf den Fisch in seinen Transportkasten und wartete darauf, dass er sich in die Kiste vorwärts tastete. Er ließ mich lange warten, bis schließlich seine Gier siegte. Kaum war er in der Kiste, verschloss ich sie. Ich war total durchgefroren, doch immerhin verschaffte mir diese Aktion so viel Beruhigung, dass ich ein paar Stunden würde schlafen können.
17. Dezember
Montagmorgen. Wie ein junger Vater, der sich über einen langen, traumlosen Schlaf wundert, den ihm sein Nachwuchs überraschenderweise gegönnt hat, schreckte ich auf, warf mir meinen Mantel über und lief aus dem Haus, um nach Licht zu sehen. Ihm war hoffentlich nichts passiert. Für eine schreckliche Sekunde malte ich mir aus, dass er in der Kiste qualvoll erstickt sein könnte.
Licht krächzte entrüstet auf, als ich die Holzklappe hochzog. Mühsam bewegte er sich mit seinem halb ausgebreiteten Flügel vorwärts. Doktor Melles schien allerdings gute Arbeit geleistet zu haben. Die Apparatur unter dem rechten Flügel hatte sich nicht verschoben. Argwöhnisch schritt der Vogel seinen Käfig ab, als könnte sich da über Nacht etwas verändert haben. Ich warf ihm einen schmalen Fisch zum Frühstück hin, erneuerte das Wasser, das in der Nacht geforen war, und begab mich nach einer ausgiebigen Morgentoilette ins Dorf. Meinem Bein hatte die Ruhe gut getan.
Ich wählte den Weg über den Deich. Ein eisiger Wind wehte hier, und einzelne Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Der See war beinahe vollständig zugefroren. Ich wagte mich ein paar Schritte auf das Eis hinaus. Leise knisterte es unter meinen Füßen, doch es wirkte so fest, dass man über den halben See hätte laufen können. Niemand außer mir marschierte am Ufer entlang. Einzelne Vögel flogen kreischend in den düsteren Himmel. Das alte Ruderboot lag ganz vom Eis umschlossen am Steg, wie das Relikt eines längst vergangenen Sommers. Ich spürte ein leises Bedauern, dass Hedda heute am See offenbarkeine Predigten oder Weihnachtsgeschichten vorbereiten
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