Das Winterkind
könnte dem Jungen das Haus überlassen und mir eine andere Bleibe suchen«, erklärte ich, ohne dass ich über diesen Vorschlag nachgedacht hatte. Eine andere Unterkunft; zu finden würde vermutlich nicht so einfach werden, wenn ich nicht in einem öden Pensionszimmer hocken wollte. Außerdem musste irgendjemand Licht versorgen, solange sein angeschossener Flügel noch in der Zwinge steckte.
»Nein.« Hedda schaute mich an. Aus ihrem nassen Haar waren zwei Wassertropfen wie Tränen über ihre Wange gerollt. »Mark muss sich damit abfinden, dass sein Vater ihn verlassen hat und niemals zurückkommen wird. Leider kann ich ihm nicht dabei helfen. Ich kann ihm nicht erklären, warum sein Vater freiwillig gestorben ist.«
Ich dachte an den Abschiedsbrief, den ich gefunden hatte und der auch nicht viel erklärte. »Es gab keinen Grund … für den Selbstmord?«
Hedda zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Hosentasche und fragte mich mit einem stummen Blick, ob sie rauchen dürfte. Ich nickte. »Natürlich gab es Gründe, mehrere Gründe, die aber eigentlich auch nicht viel besagen. Manche Menschen werden geboren und leben ihr ganzes Leben lang in einem tiefen Unglück gefangen.Ohne dass es ein anderer wirklich begreift.« Sie steckte sich eine Zigarette an. Mir fiel auf, dass sie keinen Ring und auch sonst keinen Schmuck trug. Ich kannte keine einzige Frau, die sich nichts aus Schmuck machte.
»Marks Vater hat nie gewusst, wer er eigentlich war. Kurz nachdem ich ihn kennen lernte, hat er auf einem Zebrastreifen ein Mädchen angefahren. Es war nicht wirklich seine Schuld, die Sonne hatte ihn geblendet, doch das Mädchen schwebte wochenlang in Lebensgefahr und blieb schließlich querschnittsgelähmt. Danach gab Michael sein Studium auf, und wir zogen hierher. Er verdiente etwas Geld mit Gartenarbeit, aber eigentlich hielt er sich für einen Schriftsteller. Wir haben ein ganzes Zimmer voll von seinen Manuskripten.«
»Allerdings wollte niemand seine Romane drucken«, ergänzte ich, als Hedda für einen Moment schwieg. Ihren Ehemann hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
»Ja, niemand wollte seine düsteren Geschichten haben. Nicht einmal ich habe sie richtig verstanden.«
»Und deshalb hat er sich umgebracht? Ein verkannter Schriftsteller, den niemand lesen wollte?«
Die Pastorin schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er hatte eine Affäre. Deshalb hat er auch gelegentlich in Ihrem Ferienhaus gewohnt. Diese Affäre hat ihn endgültig verändert. Er begann Tabletten zu nehmen, Stimmungsaufheller. Ich glaube, er wollte Mark und mich verlassen und konnte es irgendwie nicht.« Hedda drückte ihre Zigarette aus. »Aber ist das wirklich ein Grund, sich umzubringen?«, fragte sie ratlos.
Ich hatte keine Antwort. Ich dachte an mein eigenes Vorhaben. Bis zum 24. Dezember verblieben noch sieben Tage.
»Es hat mich gefreut, Sie in meiner Kirche zu sehen.« Die Pastorin wechselte abrupt das Thema. »Ich hoffe, Sie kommen auch am Weihnachtstag, wenn Sie dann noch im Dorf sind.«
»Sicher«, erwiderte ich. In ihrem letzten Satz war eine kleine, unauffällige Frage verborgen. »Ich habe beschlossen, noch einige Zeit zu bleiben. Schließlich muss ich mich auch um Licht kümmern.«
»Um Licht?«
Verlegern nippte ich an meinem Kognak. Ich hatte mich verraten. »Licht, das ist der verletzte Fischreiher.«
»Sie haben ihn Licht genannt.« Hedda lachte. Ein paar Falten, die ich noch nicht kannte, legten sich um ihre Augen und ihren Mund. Sie war für einen Moment wirklich amüsiert. »So wie Sie habe ich mir einen berühmten, reichen Schokoladenfabrikanten wirklich nicht vorgestellt.«
Nein, wollte ich antworten, in Ihrer Gegenwart bin ich auch kein Schokoladenfabrikant, stattdessen erwiderte ich: »Ich glaube, echte Reichtümer besitze ich mittlerweile nicht mehr, und berühmt bin ich wohl auch auf eine eher zweifelhafte Weise.«
»Neulich hat Sie ein Mann gesucht«, sagte Hedda. »Jung und eingebildet, mit Gel in den Haaren, sah aus wie ein typischer Geschäftsmann. Er wollte wissen, wo Sie wohnen, aber ich konnte ihm leider nicht weiterhelfen.«
Der junge Borger hatte sich also auch im Dorf umgesehen, bevor oder nachdem er mir erfolglos einen Besuch abgestattet hatte.
»Das war mein schrecklicher Anwalt. Er hat mich den Banken ausgeliefert.«
Unsere Hände berührten sich zufällig auf dem Tisch. Sofort zuckten wir wie bei einem Stromstoß zurück undverirrten uns in ein kurzes Schweigen. Ich hätte Hedda gerne ein
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