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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Kompliment gemacht, ein paar trostvolle Worte gesagt; mir fiel jedoch nichts ein, was nicht plump oder aufdringlich geklungen hätte. Nicht einmal eine unverfängliche Einladung zu einem Abendessen brachte ich über die Lippen.
    Schließlich strich Hedda sich in einer Geste des Aufbruchs die immer noch feuchten roten Haare zurück und schaute mich wieder an. »Ich habe leider noch einen Termin, Weihnachtsfeier in der Grundschule, aber vielleicht haben Sie morgen Abend Zeit? Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen.« Ihre grünen Augen hinter der Nickelbrille funkelten kurz auf. Sie hatte das Kompliment gefunden, das ich gesucht hatte.
    »Hedda«, sagte ich und betonte ihren Namen mit einem Lächeln, als hätte ich nun endlich seine wahre Bedeutung verstanden, »ich hole Sie gegen acht Uhr ab.«
    Dann sah ich, wie sie über die Straße zurück zu ihrer Kirche ging, hastig, mit vorgezogenen Schultern gegen den eisigen Wind gestemmt. Als sie die andere Straßenseite erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und winkte mir zu. Natürlich hatte sie die ganze Zeit meinen Blick gespürt. Der Wind wehte ihr eine Haarsträhne vor den Mund, und sie schob sie mit einer zarten Bewegung zurück, bevor sie sich wieder umwandte und ins Pfarrhaus eilte.
    Wäre ich ein Filmregisseur gewesen, hätte ich spätestens an dieser Stelle mein lautes »Halt« gerufen und die Szene wiederholen lassen, mindestens ein halbes Dutzend Mal.
    Auf dem Rückweg fing es an zu schneien. Ich hatte noch ein paar Vorräte erworben, Brot und Wein für mich, frischenFisch für Licht. Zarte Schneeflocken schwebten in der Luft, als könnten sie sich nicht entscheiden, endgültig zur Erde zu fallen. Der See lag hinter einem weißen, nebligen Vorhang verborgen. Wenn man zwanzig Schritte auf das Eis hinaus machte, war man vollkommen von Nebel und tanzenden Schneeflocken eingehüllt und konnte das Ufer nicht mehr sehen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in einer solchen unwirklichen Winterlandschaft gewesen zu sein. Kaum ein Laut drang durch die Stille, lediglich dann und wann der Schrei eines Vogels. Eigentlich gab es auch gar kein Licht mehr, sondern nur noch grauen Dunst und eine vage Ahnung, dass irgendwo hinter den schweren Wolken eine Wintersonne schien. Ich ging bis fast zur Mitte des Sees. Dort wurde das Eis so dünn, dass ich fürchten musste, beim nächsten unvorsichtigen Schritt einzubrechen.
    Ich verirrte mich auf dem See, wusste nicht mehr, in welcher Richtung das Haus lag, aber es machte mir nichts aus. Als ich Hunger bekam, nahm ich das Brot und brach mir ein Stück ab, fast wie ein Forscher, der sich durch das ewige Eis zu seiner Polarstation kämpft. Am schönsten war, dass ich an nichts mehr dachte. Ich sog die eisige Luft ein, spürte die Kälte in meinen Händen und achtete nur auf meinen nächsten Schritt. Manchmal blieb ich stehen, um die Schneeflocken von meiner Brille zu wischen, und manchmal blitzte das Bild der Pastorin vor meinen Augen auf, wie sie lächelnd über die Straße gelaufen war. Spätestens morgen Abend würde ich sie wiedersehen.
    Dann begann ich mich an den Schreien der Enten zu orientieren. Von weither hörte ich plötzlich ihr aufgeregtes Schnattern. Es klang, als würde jemand die Vögel füttern. Bald gerieten die ersten Umrisse des Ufers in meinenBlick: Schilf, Gräser mit Blüten aus Schnee, ein paar kahle Bäume, schließlich der Deich, auf dem kein Mensch zu sehen war. Ich war nicht halb so weit auf den See hinausgelaufen, wie ich angenommen hatte.
    Licht hatte während meiner Abwesenheit wieder Besuch bekommen. In dem frisch gefallenen Schnee waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Einen Moment war ich wirklich besorgt, bis ich erkannte, dass die Spuren einem Kind gehören mussten. Ging der Junge nicht mehr zur Schule? Oder machte er es sich zur Gewohnheit, sofort nach dem Unterricht zum Haus zu laufen? Die Spuren endeten vor Lichts Gehege. Der Junge hatte einen Haufen Körner in den Käfig geworfen, das übliche Vogelfutter, das Licht aber nicht angerührt hatte. Der Reiher starrte mich reglos an. Irgendwie glaubte ich den Ausdruck von Trauer in seinem Blick zu lesen.
    »Ich verstehe dich, Licht«, sagte ich, während ich ihm eine stattliche Forelle zuwarf. »Bald kannst du wieder fliegen.«
    Der Junge war nicht bis zum Haus gegangen. Seine Spuren führten um das Haus zum Schuppen. Hatte er hier etwas gesucht? Ich registrierte keinerlei Veränderung. Der alte Leiterwagen stand da, daneben der verrostete

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