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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Rasenmäher, das alte Fahrrad, die anderen Utensilien. Wenn der Junge sich irgendein Werkzeug eingesteckt hatte, hätte ich es ohnehin nicht bemerkt. Was hätte er auch damit anfangen wollen? Während ich seinen Spuren nachging, hatte ich das Gefühl, dass er ein Spiel mit mir spielen wollte, allerdings nicht aus kindlichem Vergnügen. Er wollte mich verwirren und einschüchtern. Er war gar kein elf- oder zwölfjähriger Junge, sondern ein Phantom, das vorhatte, mich an der Nase herumzuführen, damit ich wieder meinenKoffer packte und verschwand. Aber diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Morgen würde ich ihn erwischen und ihm ein paar weniger freundliche Dinge sagen, und dann würde ich seine Mutter zu einem opulenten Abendessen ausführen.
    Als die Dunkelheit hereinbrach, lockte ich Licht mit einem dicken Fisch und guten Worten wieder in seinen Holzkasten. Diesmal musste ich noch länger in der Kälte ausharren, bis ich die Klappe hinter ihm schließen konnte. Weil er ahnte, was ich vorhatte, krächzte er zuvor empört auf, warf sich in Positur und breitete stolz seinen unverletzten linken Flügel aus. Die letzte Nacht in seinem engen Gefängnis hatte ihm anscheinend mächtig zugesetzt.
    Der Nebel hatte sich gelichtet. Es war viel heller als in den Nächten zuvor. Überall glänzte der Schnee und warf ein Licht zurück, von dem man zuvor gar nicht gewusst hatte, dass es existierte. Manchmal, wenn die Wolkendecke aufriss, waren sogar einzelne Sterne am Himmel zu sehen. Ich widerstand der Versuchung, ins Dorf zu laufen, um möglicherweise Hedda zu begegnen, und begab mich lediglich noch einmal zum Deich. Auch über dem schneebedeckten See stand ein weiches Licht. Ein Tier bewegte sich in diesem Licht, ein unförmiger Schatten, den ich zuerst für einen sehr groß geratenen Hund hielt, dann jedoch fiel mir der schleppende Gang dieser Schattengestalt auf. Kein Hund würde sich so humpelnd fortbewegen, außerdem ging dieser gedrungene Schatten, wenn man genau hinsah, eindeutig auf zwei Beinen. Was wollte diese Gestalt um diese Zeit auf dem See? Warum hastete sie in eine Richtung davon, für die es keinen Grund geben konnte; es sei denn, es handelte sich um einen Fischer, der ein Loch ins Eis schlagen wollte, um mitten in der Nacht ein paar Fische zufangen? Auf diese Frage konnte es nur eine Antwort geben. Offenkundig hatte ich, ohne es im richtigen Augenblick zu bemerken, jemanden in die Flucht geschlagen.

18. Dezember
    Kann man neues Licht riechen? Kann man riechen, dass der Himmel sich verändert hat? Während ich noch erwachte, spürte ich schon, dass etwas anders geworden war. Die Kälte war geblieben, doch die dichten Wolken waren verschwunden. Glutrot stieg die Sonne den klaren Himmel hinauf. Ein Wintertag wie aus einem Bilderbuch war angebrochen.
    Ich kleidete mich rasch an und befreite Licht aus seinem Gefängnis. Erleichtert stolzierte er ins Freie und stieß seine typischen heiseren Schreie aus. Ich hatte mich mittlerweile an die Temperatur gewöhnt, die im Haus herrschte, doch nichts bereitete mir an einem solchen Morgen mehr Vergnügen, als schwarzen, heißen Kaffee zu trinken. Das war schon früher so gewesen, wenn ich gegen acht Uhr in mein Büro gefahren war und meine Sekretärin mir den ersten Kaffee gebracht hatte. Meistens hatte ich ihn am Fenster stehend getrunken, während ich auf die hell erleuchtete Fabrik hinabstarrte. Wie lange war das her? Ein paar Jahre, so kam es mir vor, wenn es denn jemals Wirklichkeit gewesen war.
    Ich musste einige kleinere Probleme lösen, bevor ich am Abend Hedda treffen konnte. Ich brauchte dringend neue Kleidung, ein ausgedehntes Bad und eine gründliche Rasur. Auch ein hübsches Geschenk musste ich besorgen.Nur – was schenkt man einer schönen, trauernden Pastorin beim ersten Rendezvous?
    Ein Motorengeräusch, das sich schnell näherte, lauter wurde und dann abrupt erstarb, versetzte mich mit einem Schlag in höchste Unruhe. Natürlich dachte ich sofort an den jungen Borger und seine respektlose Bande von Bankern. Sie würden mich nicht in Ruhe lassen, schon gar nicht, wenn die Sanierung der Firma in ihre entscheidende Phase trat. Ich war kein Autokenner, doch der Wagen, den ich da gehört hatte, war mit Sicherheit eine Limousine der Oberklasse.
    Mein zweiter Gedanke galt Ira. Sie war angeblich wieder im Lande. Warum sollte sie nicht einer ihrer ersten Wege zu ihrem gescheiterten Ehemann führen? Selbst dem jungen Borger oder einem freundlichen Staatsanwalt,

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