Das wird mein Jahr
Westen. Man müsste theoretisch nur ein paar Meter laufen und könnte Schultheiß-Bier trinken. Aber auf dem Weg dorthin wirst du wahrscheinlich erschossen.«
»Also dann doch lieber Fernsehturm?«, hatte ich entgegnet.
»Bleibt uns ja nix anderes übrig.«
Meinen gesamten Hausrat hatte ich in vier Kisten gepackt und im Bus verstaut – oder weggeschmissen. Im Klar-Schiff-Machen war ich mittlerweile geübt. Keine zwei Stunden brauchte ich dafür, und ich war selbst überrascht, wie schnell das ging und wie wenig an Habseligkeiten zusammen kam. Eine Umzugskiste voller Klamotten und Schuhe, eine mit Musikmagazinen, Schallplatten, Kassetten und Ankes Rekorder, eine kleine mit Geschirr und eine mit der silbernen Hifi-Anlage, inklusive Lautsprecher von Herrn Merks Schwiegereltern. Die hatte den perfekten Sound und Herr Merk bestimmt keine Verwendung mehr dafür. Wäre doch schade, sie hier allein zurückzulassen. Außerdem schuldete mir sein Sohn noch was. Mein grünes Fahrrad schob ich ebenfalls in den Bus und meine E-Gitarre, die ich hier nicht einmal aus ihrer braunen Stofftasche gepackt hatte.
Sollte ich in Berlin bleiben können, müsste ich nichtnoch mal zurück und würde mich einfach telefonisch mit einer Ausrede abmelden. Plan B wäre, ich fuhr rechtzeitig zum Urlaubsende zurück nach Esslingen, Herr Albrecht würde das mit dem verpassten Bullentermin für mich regeln, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Aber Plan B gefiel mir nicht wirklich, denn ich hatte keinen Bock mehr hier zu sein. Ob ich trotzdem noch mal bei Andi anrufen sollte?
Auf der Autobahn konnte ich links von mir der Sonne beim Untergehen zuschauen, bis man nur noch einen schmalen orangefarbenen Streifen sah. Dann war es finster. Leipzig ließ ich rechts liegen, und nichts regte sich in mir dabei. Nicht einmal, als ich das feststellte.
Die Abfahrt Berlin-Schönefeld erreichte ich gegen acht Uhr abends. Die Stadt war riesig. Riesige Häuser, riesige Alleen. Größer als Stuttgart und Leipzig zusammen. Die Straßen nahmen kein Ende.
In der Nähe der Mainzer sahen die meisten Häuser von außen echt gruselig aus. Solche abgeblätterten Fassaden kannte ich noch aus den Leipziger Altbauvierteln. Nicht aus Grünau, nicht aus Stuttgart und Esslingen. Nur wenige Menschen liefen auf den schwach beleuchteten Gehwegen. Welche Häuser hier besetzt waren, konnte man unschwer erkennen. Ein Meer an Transparenten und Fahnen ließ die Bruchbuden irgendwie abenteuerlich aussehen, fast wie Piratenschiffe. Die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock waren mit Holzplatten oder Metallgittern gesichert. An einem hing eine riesige DDR-Flagge. Von irgendwoher hörte ich alte UFA-Schlagermusik, wahrscheinlich aus einem offenen Fenster.
Ich fand den Zettel mit der Hausnummer nicht gleich in meiner Jackentasche und ging auf zwei Punks zu, die vor einem Ladenlokal standen, das offenbar eine Kneipe war. »Hallo. Ich suche das Haus von Matti und Noel aus Stuttgart. Kennt ihr die zufällig?«
Die beiden schienen schon einige Biere vertilgt zu haben und schauten mich mit glasigen Augen an. »Es gibt viel zu viele Schwaben in Berlin«, sagte der eine mit monotoner Stimme in norddeutschem Dialekt und starrte weiter geradeaus ins Leere.
Ich irrte an den Häusern vorbei, bis ich vor der Nummer 8 stand. Die war es doch gewesen, oder? Am Klingelbrett gab es nur einen funktionierenden Knopf. Ich drückte und wartete.
»Hallo?«, rief jemand aus einem der Fenster über mir. Ich trat zurück auf die Straße, um besser nach oben schauen zu können. Viel erkannte ich nicht.
»Ich wollte zu Matti und Noel«, rief ich hoch.
»Moment.« Der Kopf verschwand und tauchte kurze Zeit später wieder auf. »Die sind drüben im Tunten-Tower.«
»Ja, danke …« Bevor ich nachfragen konnte, wo das sei, war der Kopf schon wieder verschwunden. Ratlos stand ich auf dem Fußweg. Drei Häuser weiter ging immer wieder eine Tür auf, und Leute kamen und gingen. Ich lief hin und zwängte mich in einen dunklen Hausflur voller Fahrräder und Baumaterialien. Die Schlagermusik wurde lauter. Ich glaubte die Stimme von Marlene Dietrich zu erkennen, aber ich hörte auch unzählige andere. Ich folgte den Leuten vor mir und stand kurz darauf in einem gut besuchten Hinterhof, auf dem eine provisorische Bühne aufgebaut war. BunteScheinwerfer erhellten die Rückfront des Hauses. Hinter der Bühne lehnte ein riesiges DDR-Emblem an der maroden Wand, bestimmt zwei Meter im Durchmesser. Als hätten
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