Das wird mein Jahr
rübergeschaut hatte. »Kannst du gerne behalten.«
Wir erreichten San Gimignano mit seinen merkwürdigen viereckigen Türmen aus dem Mittelalter. Busladungen von Touristen quetschten sich durch das kleine Tor der Stadtmauer in eine Fußgängerzone, vorbei an Geschäften die abwechselnd Lederhandtaschen oder Souvenirs verkauften. Alte, unverputzte mehrstöckige Häuser drängten sich dicht an dicht in verwinkelten Gassen. Sie waren das komplette Kontrastprogramm zu den saubergeleckten Einfamilienhäusern in den Stuttgarter Vororten. Mir fielen diese Mantel-und-Degen-Filme aus den 60er Jahren wieder ein, die ich als Kind oft im Fernsehen gesehen hatte und hier spazierte ich gerade durch die Kulissen. Elisabeth erzählte mir währenddessen von ihren Großeltern, die ihr das Grundstück in Populonia vererbt hatten, und dass sie aus den Oliven Ende Oktober Öl pressen lassen wollte.
Zurückgekehrt in ihrem Haus durchstöberte ich in der großen Wohnküche ihre Platten, aber die meisten Bands kannte ich nur vom Namen. The Byrds, Beatles, Genesis. Von Kraftwerk hatte ich wenigstens schon mal ein paar Songs gehört. Und dann waren da noch jede Menge Klassik-Scheiben, wovon ich überhaupt keine Ahnung hatte.Ihr Ex-Mann schien die interessantere Sammlung zu haben.
Irgendwann fand ich »The Unforgettable Fire« von U2. Gleich beim ersten Song fiel mir ein, dass ich den auf Ankes Mixtape überspielt hatte und hob schnell die Nadel vom Vinyl. Ich war hier, um zu vergessen, nicht um mich in Selbstmitleid zu baden. An wen oder was hatte ich gerade gedacht? Es war mir schon wieder entfallen … Fast, jedenfalls.
Elisabeth kam mit zwei Gläsern Rotwein und reichte mir eins. Sie legte eine Platte von den Byrds auf – 60er Jahre Hippie-Kram, wie ich fand, aber ich wollte nicht unhöflich sein, schließlich war das ihr Haus. Wir setzten uns auf das große Sofa und hörten der Musik zu.
Gegen Mitternacht liefen wir betrunken an den menschenleeren Strand und badeten.
Vier Tage war ich nun hier. Ich wachte auf und fühlte mich schwer verliebt. In meinem Bauch kribbelte es. Ich hatte die Augen noch nicht geöffnet und musste grinsen. Doch ich dachte nicht an Elisabeth. Letzte Nacht hatte ich von Anke geträumt.
Wir beide waren mit meinem Bus am Straßenrand in irgendeiner Großstadt, saßen in der geöffneten Schiebetür auf dem Wagenboden und hielten uns an den Händen. Wir blickten auf eine Konzerthalle in der Morrissey spielte, gingen aber nicht rein, sondern saßen nur so da.
Langsam kehrte ich in die Wirklichkeit zurück. Elisabeth lag neben mir und schlief noch. Ich schaute kurz zu ihr rüber und schloss dann wieder die Augen. Ich wolltezurück in meinen Traum, zurück zu Anke, wollte mich weiden an diesem wunderbaren Gefühl der Verliebtheit.
Beim Frühstück war ich immer noch in Gedanken.
»Du bist heute so still«, sagte Elisabeth.
»Ich hab nur was Komisches geträumt.« Ich stand auf und brachte mein Geschirr in die Küche.
Den Vormittag verbrachte ich im Liegestuhl und tat so, als würde ich schlafen, um nicht mit Elisabeth reden zu müssen. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr darauf. Ich vermisste die Clique aus der Rakete und The Innocent Disco, obwohl ich wusste, dass es uns nicht mehr gab. Ich vermisste die Abende mit Andi, obwohl wir uns irgendwie nichts mehr zu sagen hatten. Noel und Matti vermisste ich auch. Und mir fehlte Anke, obwohl ich sie wohl nie wiedersehen würde. Denn seit dem Mixtape hatte sie sich nicht bei mir gemeldet.
Oder vielleicht doch? Während ich hier in Italien faulenzte, konnte sie mir durchaus geschrieben oder was auf den Anrufbeantworter gequatscht haben. Ich musste das unbedingt herausfinden. Jetzt! Unmöglich konnte ich hier noch länger rumliegen.
Elisabeth kam aus dem Haus zu meinem Liegestuhl rübergelaufen. »Na, den Alptraum verarbeitet?« Sie trug einen großen Sonnenhut und schaute aufs Meer. »Man sieht heute sogar die Küste von Korsika.«
Ich zögerte kurz. »Letzte Nacht habe ich von meiner früheren großen Liebe aus Leipzig geträumt. Sie lebt jetzt in Düsseldorf und wird wohl bald heiraten.«
»Heiraten? Das ist wirklich ein Alptraum. Wie unvernünftig. Oder ist er etwa reich?« Elisabeth lächelte undschwieg. Ihr musste ich nichts vormachen. Wir waren ja nicht direkt ein Liebespaar. Wir trösteten uns nur. Das war zwischen uns von Anfang an irgendwie unausgesprochen, aber klar gewesen. Und das wurde mir jetzt noch klarer. Das hier, Elisabeth und ihr Haus und
Weitere Kostenlose Bücher