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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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die Leute das vom Palast der Republik abgeschraubt und hierher gebracht. Es wirkte seltsam in dieser Szenerie. Wie Honecker im Kirchenasyl.
    Eingehüllt in reichlich Trockeneisnebel hatte eine hochgewachsene, grell geschminkte Frau mit blonden Haaren gerade ihren Auftritt. Sie trug hochhackige Schuhe und ein dunkles Abendkleid und sang zum Playback von Marlene Dietrichs »Lili Marleen«. War das wirklich eine Frau? Oder war das ein Mann? Die Beine erschienen mir zu muskulös, zu sehnig. Und die Frisur sah auch eher nach einer Perücke aus. Ich bemerkte vor der Bühne noch weitere auffällig gekleidete hochgewachsene Frauen, auch eine mit Schnurrbart. Mit Schnurrbart? Die Szenerie erinnerte an das Musikvideo »Relax« von Frankie Goes To Hollywood, in dem jede Menge extrovertierte Gestalten tanzten, die ich erst Jahre später als Transvestiten erkannt hatte. Das musste dann wohl der Hof des Tunten-Towers sein. Ob sich Matti und Noel auch verkleidet hatten? Wie sollte ich die dann bloß erkennen?
    Zwei Männer in Frauenkleidern drängelten sich an mir vorbei Richtung Bühne. »Guck mal, Schwester, Elvis ist wieder auferstanden. Wie süß«, sagte der eine. Ich schaute betreten zur Seite. Die wollten mich doch nicht etwa anbaggern?
    »Mensch, alter Schwabe! Das ist ja eine Überraschung.« Ich erschrak fast etwas, als Matti plötzlich vor mir auftauchte. Aber er sah aus wie immer. Kein Lippenstift und auch keinBallkleid. »Du kommst gerade richtig zur Galashow der ›Forelle Blau‹. Cool, nicht?«
    »Ist mal was anderes«, sagte ich leicht unsicher. »Was ist die ›Forelle Blau‹?«
    »So heißt die Kneipe hier im Tunten-Tower. Ein Typ aus Leipzig tritt nachher auch noch auf. Kennst du einen Marco? Der ist ein großer Depeche-Mode-Fan.«
    Noel kam zu uns und hatte drei Bier mitgebracht. »Willkommen in Berlin.« Er hielt mir eine Flasche hin. »Na, hast es wohl bei den Häuslebauern nicht länger ausgehalten?« Ich nickte.
    Das Marlene-Dietrich-Double beendete seine Playbackshow unter großem Applaus und Gejohle. Ein Moderator in einem rot-schwarz karierten Anzug kam auf die Bühne und kündigte als nächstes Marilyn Monroe an. Alles tobte. Und wirklich – Marco, also Martin aus unserer Grünauer Rakete, kam auf die Bühne. Er trug ein weißes Kleid, das in Brusthöhe üppig ausgepolstert war, eine wasserstoffblonde Perücke und sehr, sehr roten Lippenstift. »Diamonds are a girl’s best friend«, hauchte er lasziv und tonlos zur Musik aus der Konserve in ein Mikrophon, und der ganze Hof flippte vor Begeisterung aus.
    Es war schon nach vier Uhr morgens. Mit Noel und Matti ging ich rüber in ihr Haus. Vorher hatte ich noch Schlafsack und Reisetasche aus dem Bus geholt. Wir kämpften uns durch ein komplett vollgestopftes Treppenhaus.
    »Sagt mal, hier ist wohl keiner mit der Kehrwoche dran?«, fragte ich die beiden leicht angetrunken.
    »Kehrwoche fällt aus«, antwortete Noel und lachte.
    »In unserer Etage ist ein Zimmer frei, wo du pennenkannst«, erklärte Matti, während wir die knarrenden Holzstufen in den dritten Stock hochliefen. »Solltest du für länger bleiben wollen, muss das Hausplenum entscheiden. Ist aber nicht das Problem, du bist doch ein netter Typ. Hauptsache du bist kein Junkie.« Ich blieb kurz stehen und  sah Noel verwundert an. »Keine Panik, Kiffer sind keine Junkies. Aber wenn man einen Heroinabhängigen im Haus hat, klaut der alles, was sich zu Geld machen lässt. Das ist das Ende jedes einigermaßen vernünftigen Hausprojektes.«
    »Das Allerwichtigste ist außerdem unten das Haustürzuschließen«, ergänzte Matti. »Damit keine Bullen oder Faschos hier reinspazieren können. Schlüssel bekommst du noch.« Wir stiegen weiter die staubige Treppe hoch. Alle Wohnungstüren standen offen. Irgendwo hörte jemand Anne Clark.
    Matti wohnte zum Hof raus und Noel in einem straßenseitigen Zimmer. Beide hatten sich Hochbetten reingebaut. Sah cool aus, so was hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ansonsten bestand die Einrichtung nur aus einigen alten Holzstühlen und Kisten für Klamotten. Alles noch spartanischer als in Stuttgart, fand ich. Dazu Konzertplakate an den Wänden. Noel zeigte mir ein Zimmer zur Straße raus, wo ich pennen konnte. Eine schirmlose Glühbirne an der Decke sorgte für Licht. Außer einer Matratze und einem alten Holzstuhl befand sich nichts darin. An den Wänden war noch die alte DDR-Blümchentapete, und zwei lange nicht geputzte Fenster gaben verschwommen den Blick auf die

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