Das Wispern der Schatten - Roman
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Sie legte die Lippen auf seine und küsste ihn, erst sanft, dann so leidenschaftlich, dass es schmerzte. Das machte ihm nichts aus, im Gegenteil. Erst als er nicht mehr atmen konnte, schob er sie von sich. Er keuchte, rang nach Luft und sah sie dann mit einem verlegenen Lächeln an. Er ergriff ihre Hand.
» Du zitterst ja«, sagte Hella lachend. » Eben noch warst du größer als der Himmel und hast Magie über einen Heiligen ausgeschüttet, und jetzt hast du Angst vor einem Kuss.«
» Habe ich nicht! Na, und wennschon.«
» Hast du noch nicht viele Mädchen geküsst?«
» Natürlich habe ich das! Haufenweise! Wie viele hast du denn geküsst?«
» Ich küsse keine Mädchen!«, kicherte sie.
» Das habe ich nicht gemeint.«
» Ich weiß, Dummkopf. Ich wollte dich doch nur aufziehen.«
» Oh«, sagte er und kam sich töricht vor. Er kratzte sich am Kopf und sah auf seine Füße hinab. Dann blickte er wieder zu ihr hoch, lächelte und lachte laut los.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn erneut. Diesmal achtete er darauf, durch die Nase zu atmen, damit Hella niemals wieder aufhörte.
Der Sonderbare hockte, ein Schwert aus Sonnenmetall um den Kopf gebogen, da und beobachtete, wie Jillan und das Mädchen einander unter dem Baum küssten. Er würde ihnen diesen Augenblick gönnen– nicht weil er gefühlsduselig gewesen wäre, sondern weil es wichtig war, dass der Junge etwas oder jemanden hatte, um ihn in den Zeiten voller Fährnisse, die vor ihm lagen, bei der Stange zu halten und seinen Opfermut zu stärken. Wenn der Junge hier und jetzt keine Bindung einging, würde es dem Sonderbaren in Zukunft nicht gerade leichtfallen, ihn zu lenken. Also ließ er ihm dies hier.
Der Sonderbare wusste, dass ein Augenblick sowohl ein Zeitpunkt als auch eine eigenständige Kraft war. So kurz und scheinbar unwichtig er auch wirken mochte, wenn man ihn richtig einsetzte, wurde er zu dem winzigen Bruchstück, das etwas von unermesslicher Größe aus dem Gleichgewicht brachte. Ein Kuss konnte Welten zerstören, vielleicht sogar den ganzen Kosmos. Seht doch nur, wie mein theatralischer, aber genau zum rechten Zeitpunkt erfolgter Auftritt auf der Mauer Torpeth dazu verlockt hat, mir den Sonnenmetallhelm vom Kopf zu reißen, sodass ihn sich der aufgeblasene Azual seinerseits auf den Kopf setzen konnte, was ihm letztendlich zum Verhängnis geworden ist. Seht, wie die Tatsache, dass ich dem Heiligen ein einziges Tröpfchen meiner Macht gegeben habe, Jillan endlich gezwungen hat, sich auf seine eigene Macht einzulassen und zur Waffe meines Willens zu werden. Ach, wie einfach und mühelos ist diese Welt doch zu beherrschen! Weder das Geas noch das Reich können hoffen, gegen mich, den Herrn des Chaos, zu bestehen. Das Geas und das Reich lassen sich genauso leicht lenken wie der Junge. Bald wird meine alte Stellung im Kosmos vollkommen wiederhergestellt sein.
Und dazu muss ich nur warten. Ich werde nicht darauf bestehen, dass der Junge seinen Teil des bindenden Handels erfüllt, den wir bei unserem Eintreffen in Hyvans Kreuz geschlossen haben, solange er sich nicht erholt hat. Soll er doch erst Brot brechen, Trinksprüche ausbringen, mit seinen heidnischen Waffengefährten Geschichten austauschen und ihnen ewige Freundschaft schwören – Aspin Langbein, Slavin Schneehaar, dem lästigen Torpeth –, bis sie in die Berge zurückkehren müssen, um Pralar zu begraben und einen neuen Häuptling zu wählen. Soll er doch an der Seite des stoischen Samnir, des sturen Thomas, der lieben Freda, des unreinen Ash, des Händlers Jacob, des bodenständigen Haal und der süßen Hella arbeiten, lachen und lächeln, wenn sie bald darangehen, Gottesgabe wieder aufzubauen. Soll er sich diesem Liebesdienst widmen und daran denken, sich mit seiner Liebsten ein Zuhause zu schaffen, wenn im Frühling die Lebenskräfte eine Erneuerung erfahren. Soll er sich noch eine ganze Weile nicht vor dem eben geflohenen Praxis und vor Hauptmann Skathis fürchten. Sollen die Leute und Helden dieser Region, die nun von der Kontrolle ihres Heiligen befreit sind, beginnen, sich selbst kennenzulernen. Sollen sie die Welt staunend betrachten, als würden sie sie zum ersten Mal sehen. Sollen die Bewohner von Gottesgabe diesen Jungen doch ins Herz schließen und eine Stadt errichten, die dem Reich standhalten kann und den Andersweltlern endlose Schwierigkeiten bereitet. Sollen diese Sterblichen sich darauf besinnen, was Glück ist, damit sie etwas
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