Das Wispern der Schatten - Roman
niedergemetzelt, und es würde Generationen dauern, es wieder zu ersetzen, was zugleich bedeutete, dass ihm Generationen entgehen würden, aus denen er Magie hätte trinken können. Auf lange Sicht hatte er sich geschwächt. Schlimmer noch, es hatte die gesegnete Erlöserin, der er ergeben war, dazu gebracht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, was bis zu jenem Zeitpunkt sehr, sehr lange nicht geschehen war.
Geht es dir gut, Damon?, hatte die ruhige, geschlechtslose Stimme plötzlich in seinem Verstand gefragt.
Azual war dort, wo er sich befunden hatte, auf die Knie gefallen– zwischen hunderten bluttriefender Kadaver auf dem Stadtplatz, vor den Augen seiner Legion von Helden– und hatte heftig zu zittern begonnen. Die heilige Erlöserin hatte ihn mit seinem alten Namen angesprochen, nicht mit seinem Heiligennamen! Der ganze Schrecken und die Tragweite dessen, was er getan hatte, waren heftiger und weit schmerzhafter auf ihn eingestürzt als je ein heidnischer Häuptling. Galle war ihm in die Kehle gestiegen, und es hatte sich angefühlt, als ob er sich kaum davon würde abhalten können, seinen Magen, sein Herz und seine Lunge ins rot befleckte Gras auszuwürgen. Sein eigener Körper hatte aus Abscheu vor dem Wesen, dem er angehörte, rebelliert.
H…h…heilige Erlöserin!, hatte Azual gequält im Geiste geschrien. Was habe ich getan? Ich habe es nicht so gemeint.
Warum sagst du das? Nichts bleibt uns verborgen, Damon, das weißt du doch. Wir wissen immer alles. Erkenne dich selbst, Damon, erkenne dich selbst. Das werde ich dir nicht noch einmal sagen.
H…heilige Erlöserin, rate mir! Verlass mich nicht. Wie kann ich mich am besten selbst erkennen?
Aber er hatte keine Antwort erhalten, ganz gleich, wie sehr er gefleht hatte. Es war eine Strafe für ihn gewesen, hatte ihm aber auch abverlangt, allein und für sich selbst zur Lösung zu werden, ganz so, wie er zuvor zum Problem geworden war. Er seufzte, als er an die schwierigen Jahre voller Selbstzweifel und Selbstvorwürfe zurückdachte, die darauf gefolgt waren. Erst damals hatte er voll und ganz verstanden, dass immer ein fürchterlicher Preis dafür zu zahlen war, von den betörenden, chaotischen Energien dieser besudelten Welt zu trinken: Neben dem Augenblick der Ekstase und Transzendenz gab es immer auch den darauf folgenden Augenblick des Verlusts und des Schmerzes, und während seine persönliche Macht wuchs, verlor er auch etwas von sich und seiner Selbstbeherrschung. Er durfte nie vergessen, dass die Magie von Natur aus verderbt und verderblich war. Daher musste er danach streben, sie ständig unter Kontrolle zu halten. Entgleisungen wie bei diesem jungen Mädchen mochten zwar von Zeit zu Zeit vorkommen, durften aber nicht zur Gewohnheit werden.
Azual runzelte die Stirn. Was genau war heute schiefgegangen? Irgendetwas nagte an ihm. Er warf seinen Verstand nach den Gedanken aller Menschen aus, mit denen er verbunden war. Irgendwo gab es eine Störung: Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Dort, wo sonst glatte und regelmäßige Formen und Muster im Netz der Gedanken des Volkes vorherrschten, gab es heute einen bestimmten Abschnitt voll Unberechenbarkeit. Er sah ihn sich näher an und verfolgte die Gedankenfetzen dort. Was für ein Durcheinander! Am Ende folgte er einer Anzahl loser Fäden und geriet in ein paar Sackgassen, bevor er es herausfand.
Sein eines Auge blitzte überrascht auf. Gottesgabe? Was für einen Zwischenfall konnte es in dem erbärmlichen Nest wohl gegeben haben? Es war jemand gestorben. Das war nun wahrhaftig nichts Ungewöhnliches… aber es war infolge von Magie geschehen! Er setzte sich kerzengerade auf. Seit den Tagen der Eroberung und Besiedlung war es im Volk nicht mehr zu einem Hervorbrechen von Magie gekommen. Was konnte jetzt dafür gesorgt haben, und was hatte es zu bedeuten? Hatten die Heiden die Hand im Spiel? Das war unklar.
Ohne Zeit zu verlieren, legte er das tote Mädchen so hin, dass es friedlicher wirkte, versiegelte die letzte Phiole, um sie für den Transport in den Großen Tempel vorzubereiten, und bückte sich, um den feuchten, zugigen Steintempel zu verlassen. Wie froh er war, aus diesem verrottenden Mausoleum von einem Gebäude herauszukommen! Wie die meisten Tempel war es eher darauf ausgelegt, das Volk zu beeindrucken, als der Bequemlichkeit des Heiligen zu dienen, der dort residierte, wann immer er den Ort besuchte. Deshalb war der Tempel aus gewaltigen Steinblöcken errichtet worden, die von
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