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Das Wispern der Schatten - Roman

Das Wispern der Schatten - Roman

Titel: Das Wispern der Schatten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam J Dalton
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Aufladung durch seinen Körper ausstrahlte und ihm Sinne und Verstand schärfte. Sein eines sehendes Auge loderte auf und durchschaute die Natur jedes Steins, der den armseligen Tempel von Erlöserparadies bildete. Er sah das flüchtige Leben ganzer Welten, während sie geboren und dann von den qualmenden Flammen der Fackeln an der Wand verschlungen wurden. Er sah den Verfall der Leiche des jungen Mädchens beginnen, das er gerade ausgesaugt hatte, sah, wie die Verwesung an den Gliedmaßen zu nagen anfing.
    Er gähnte, streckte sich und genoss die zeitbegrenzte Steigerung seiner Machtfülle– sie war das Einzige, was das Leben lebenswert machte, das Einzige, was nie schal wurde oder ihn langweilte. Sie war immer neu, immer anders, als ob er noch einmal geboren würde, um die Welt wieder mit unerfahrenen Augen zu sehen. Sie machte die Wiederholungen in seinem langen Dasein erträglich, die lästige Runde durch die Gemeinden des Südens alle sechs Monate, die endlosen Tage, in denen er den ewig gleichen leeren Lobpreisungen und Gebeten um Hilfe lauschen musste, die unendlichen Jahrhunderte, die er schon dafür sorgte, dass jede neue Generation die Erlöser fürchtete und verehrte.
    Der Tod der jungen Frau war eine Schande, aber nur, weil er jetzt den schrillen Trauerschreien ihrer Sippschaft würde lauschen müssen, die ihm die Nerven zerrütten würden. Er würde sich irgendeine nichtssagende Erklärung aus den Fingern saugen müssen, etwa die, dass das Mädchen mit einem Makel behaftet gewesen sei, aber nicht stark genug, die Reinigung zu ertragen. Die Familie sollte feiern, so würde er verkünden, denn der Tod des Mädchens war vom Heiligen selbst mit angesehen und gesegnet worden, und somit konnte kein Zweifel bestehen, dass der Geist der jungen Frau von den ewigen Erlösern willkommen geheißen werden würde.
    Die Wahrheit war natürlich, dass er zerstreut gewesen war, als er ihr die aufkeimenden Energien abzapfte, und das erst bemerkt hatte, als es schon zu spät gewesen war, sie zu retten. Der Fehler war ihm in all den Jahren schon mehrfach unterlaufen, da die Langeweile, einem Kind nach dem anderen ein Aderlassröhrchen einzuführen, seine Konzentration untergrub. Als es zum ersten Mal geschehen war, war er beinahe neugierig gewesen herauszufinden, welche Folgen es haben würde, denn es war schließlich eine Abweichung von der Norm gewesen. Doch es war eigentlich gar nicht viel geschehen. Es hatte ein bisschen Gejammer gegeben, Tränen und ein paar Reden, aber damit hatte es sich gehabt. Alles war genauso weitergegangen wie zuvor.
    So war es um den Wert des Lebens der Menschen aus dem Volke bestellt. Nichts als Wind und Lärm zeugten von ihrem Tod. Sie hinterließen keine andere bedeutsame Spur auf der Welt oder in der Ewigkeit. Sie waren im Grunde genommen eine Art Vieh, in ihre Siedlungen eingepfercht und in der Anzahl gezüchtet, die die Erlöser verlangten. Und die Leute hatten es auch nicht besser verdient, denn sich selbst überlassen hätten sie nur untereinander gekämpft und ihr Leben lang im Schlamm herumgestochert. Sie hätten versucht, das Glück zu erlangen, indem sie andere noch unglücklicher machten als sich selbst.
    Erst die Erlöser verliehen den Menschen die Fähigkeit, mehr aus sich zu machen, schenkten ihnen eine Vision der glorreichen Zivilisation, die aufgebaut werden konnte, verhalfen ihnen zu einem Eindruck von der Ordnung, in deren Rahmen sie beginnen konnten, sich zu bessern, und ermöglichten es ihnen, sich selbst in einem größeren Zusammenhang zu sehen und damit ein Gefühl von Bedeutung zu entwickeln, das darüber hinausging, primitiv von der Hand in den Mund zu leben. Mit der Entstehung des Reichs hatte diese erbärmliche Welt zum ersten Mal Staunen, Größe und Ehrfurcht erlebt. Gewiss, sie war überwiegend immer noch ein Ort voll Schlamm und Schmutz, aber dann und wann deckte das Streben nach Besserung den Glanz von etwas Wertvollerem auf, ganz zu schweigen von der ewigen Gegenwart der Erlöser selbst und ihrer Tempel, die Generationen des Volkes von der Wiege bis zur Bahre trösteten und beflügelten.
    Natürlich wussten die Leute, dass sie unwürdig waren, jemals einen Erlöser zu sehen, und nicht angemessen hätten geschützt werden können, wenn sie frei durchs Reich hätten schweifen dürfen. Aus diesen Gründen wurde es den Leuten selten gestattet, über das Umland der Stadt hinauszureisen, in der sie geboren waren, sofern sie keine Händlerlizenz hatten, auf

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