Das Wörterbuch des Viktor Vau
seiner Jackentasche und schob ihn Marek zu.
»Nun mach ihn schon auf«, drängte er.
Marek zögerte. Dann nahm er den Umschlag und öffnete die Klappe. Mit spitzen Fingern zog er einen nagelneuen Pass heraus. Er schlug ihn auf. Sein Foto und sein Name sprangen ihm entgegen, und der Gültigkeitszeitraum betrug zehn Jahre. Es war das, wovon er, wie viele seiner Leidensgenossen, seit seiner Ankunft in der Stadt geträumt hatte. Und jetzt lag es vor ihm. Aber zugleich wusste er, dass der Preis dafür hoch sein würde. Er überlegte, ob er nicht einfach mit dem Pass abhauen konnte. Bis zur Tür waren es drei Sekunden, und einmal drauÃen würde er den Mann im Nu abgehängt haben.
Als hätte der seine Gedanken erraten, schwenkte er den erhobenen Zeigefinger hin und her. »Denk lieber erst gar nicht dran«, sagte er. »Vielleicht entkommst du mir jetzt. Aber du hättest keine ruhige Minute mehr. Ich würde dich jagen und finden, egal, wo du dich versteckst.«
Marek klappte das Dokument wieder zu und starrte den Mann an. »Was muss ich dafür tun?«
»Ganz einfach. Du brauchst mir nur zu sagen, wo sich Viktor Vau aufhält.«
Marek schluckte. Das war es also! Sein Wohltäter war vom Geheimdienst und offenbar jemand von ganz oben.
Er stellte sich dumm. »Viktor wer?«
Sein Gegenüber lächelte kalt. »Komm schon, Kleiner, versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Das ist deine groÃe Chance. Was bedeutet dir dieser Mann schon? Hat er je etwas für dich getan, so wie ich jetzt?«
Marek senkte den Blick. Was sollte er tun? Seine Augen fielen auf den Pass, und er strich mit einem Finger langsam über die raue Oberfläche. Es brauchte nur ein Wort von ihm, und er würde dazugehören. Kein Versteckspiel mehr vor der Polizei, keine Wohnungen, die Bekannte unter falschem Namen für ihn anmieteten. Er würde mit erhobenem Haupt in dieser Stadt leben können.
Und der Preis? Viktor Vau war ein Arrivierter, ein Mitglied der bürgerlichen Klasse. Was immer er auch getan haben mochte, niemand würde ihn dafür umbringen. Soweit er das mitbekommen hatte, ging es um irgendein Wörterbuch. Was konnte daran schon groà strafbar sein? Wahrscheinlich wollte der Geheimdienst es nur sicherstellen, bevor es einer feindlichen Macht in die Hände fiel.
Allerdings war da noch Enrique. Marek mochte ihn wirklich, obwohl er manchmal ein ausgesprochener Langweiler war. Und Astarte. Sie war zwar nicht sein Typ, aber eine nette Person. Beiden schien eine Menge daran zu liegen, diesen Vau in Sicherheit zu wissen. Wie sollte er ihnen jemals wieder unter die Augen treten, wenn er das Versteck jetzt verriet?
Und dann war da noch seine Anarchistenehre. Ausgerechnet er, Marek, sollte dem Staat helfen? Und zugleich Hilfe von diesem Staat annehmen, den er am liebsten abgeschafft hätte?
Er seufzte. Es war eine schwierige Entscheidung. Sein Finger lag immer noch auf dem Pass. Hier war sein neues Leben im wahrsten Sinne des Wortes zum Greifen nah. Und was wollte Enrique ihm schon vorwerfen, sollte er jemals davon erfahren, dass Marek ein Verräter war? Es war die rationale Entscheidung, genau das, was Enrique ihm immer predigte. Wenn er schwieg, würde er nicht nur den Pass nicht bekommen, sondern wahrscheinlich ausgewiesen. Damit konnte er niemandem helfen, und sie würden Vau auch ohne ihn finden. Wenn er den Pass nahm, konnte er in der Stadt bleiben, seine Arbeit fortsetzen und Enrique und Astarte vielleicht vorher sogar noch warnen.
Marek wusste, dass er dabei war, sich selbst von etwas zu überreden, was seiner innersten Ãberzeugung zutiefst widersprach. Und doch konnte er nicht anders. Letztlich war doch jeder auf sich allein gestellt.
Ohne aufzublicken, nannte er seinem Gegenüber die Adresse.
ditru :
Verschleppt
1.
Hauptstadt der Union
Der alte Mann, der am Calvani-Platz aus der Tram stieg, erregte in der Menschenmenge kein weiteres Aufsehen. Gebückt und auf einen Stock gestützt humpelte er über die StraÃe zum Gehsteig. Unter einem aus der Form geratenen Cordhut quollen ein paar graue Haarsträhnen hervor. Er trug einen wurmstichigen Mantel und billige, ausgetretene Schuhe. An seinem linken Arm baumelte ein verblichener Plastikbeutel.
Langsam bahnte er sich einen Weg durch die Ströme der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Heimweg befanden. Das Calvaniviertel beherbergte
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