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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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die großen Fabriken der Stadt. Im Zuge der seit Jahren laufenden Umgestaltung hatte man die meisten Wohnhäuser abgerissen und das Gelände den Fabrikbesitzern zur Verfügung gestellt, die hier genügend Raum für ihre Fertigung fanden. Die Infrastruktur bestand aus einer Tramlinie, die im Fünfminutentakt das Calvaniviertel mit den Wohnbezirken am Stadtrand verband, in dem die meisten der hier Beschäftigten lebten.
    Der Calvani-Platz war das Herz des Viertels. Er wurde gesäumt von unzähligen kleinen Geschäften, die sich um die Bedürfnisse der Zehntausende von Arbeitern kümmerten, die hier zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeieilten, denn in den Fabriken wurde rund um die Uhr gearbeitet. Auch jetzt, kurz vor Mitternacht, waren noch alle Läden geöffnet. Es hatte den ganzen Abend geregnet, und die Neonreklamen der Geschäfte spiegelten sich auf dem nassen Pflaster. Der Duft von mehr als einem Dutzend Garküchen und Grills unterschiedlichster Art vermischte sich mit den olfaktorischen Emissionen der Fabriken zu einer undefinierbaren Mischung, die mal nach Kunststoff, mal nach versengtem Leder und mal nach Bratfett roch.
    Der Mann schlurfte vorbei an brechend vollen Imbissbuden, schlauchartigen kleinen Supermärkten, Bekleidungsgeschäften, Haushaltswarenläden, Wettbüros und Pfandhäusern. Jedes Geschäft war von seiner eigenen akustischen Aura umgeben. Binnen weniger Minuten hatte der Mann eine musikalische Weltreise unternommen. Indonesische, arabische, afrikanische und südamerikanische Rhythmen vermischten sich mit dem stampfenden Beat der Metropolen zu einem Klangteppich, der die passende Begleitung zum Stampfen der Maschinen in den benachbarten Fabrikhallen bildete.
    Der Mann ließ die Neonlichter des Platzes hinter sich und bog in eine Seitenstraße ab. Das Calvaniviertel war wie ein Schachbrett angelegt, mit breiten Straßen, die im rechten Winkel vom Platz im Zentrum des Quartiers wegführten. Zwischen diesen Hauptadern hatten jedoch noch einige Gassen und Straßen überlebt, in denen seit Jahrzehnten nichts mehr getan worden war. Hier standen noch einige der alten Mietskasernen, in denen früher die Bergleute und ihre Familien gewohnt hatten, deren Zechen sich gleich jenseits der Quartiergrenzen befunden hatten. Die Minen waren schon lange stillgelegt und die Bergleute hatten das Viertel verlassen, aber die Häuser standen noch. Sie wurden von der Verwaltungsgesellschaft des Minenkonglomerats für wenig Geld an jeden vermietet, der ein Dach über dem Kopf benötigte. So fanden sich in diesen Ecken die Illegalen und Verarmten, der Bodensatz der Gesellschaft.
    Der alte Mann ging zielstrebig weiter, immer tiefer hinein in diesen vergessenen Seitenarm des gesellschaftlichen Flusses. Die Straßenbeleuchtung wurde trüber, die Gehwege wiesen mehr und mehr Risse und Spalten auf, und die Luft füllte sich mit dem Gestank verfaulender Abfälle in den übervollen Mülltonnen vor den Häusern. Vom Getriebe der Hauptstraßen war hier wenig zu spüren. Ab und zu eilten ein paar einsame Gestalten im Schatten der Häuser entlang, aber der Mann hatte keine Angst, denn selbst für Straßenräuber war die Klientel dieses Viertels zu unergiebig.
    Schließlich erreichte er sein Ziel. Es war eine Sackgasse, die an einer fensterlosen Hauswand endete. Der Mann blieb stehen und rückte seinen Hut zurecht. Dabei hob er den Kopf und studierte die Gasse. Auf den ersten Blick sah sie verlassen aus. Nur die Lichter aus einigen der Häuser dokumentierten, dass es hier menschliches Leben gab.
    Doch dann bemerkte er vor einem der letzten Häuser das Auto. Es war ein unauffälliger, dunkel lackierter Kleinwagen, der an der finstersten Stelle parkte. Allein dieses Fahrzeug in einer Gegend, in der die meisten Bewohner nicht einmal das Geld besaßen, um sich einen gebrauchten Gyroscooter zu leisten, war verdächtig.
    Der Mann humpelte in die Gasse hinein. Etwa zehn Meter vor dem Auto bog er in eine Durchfahrt ab, die in einen kleinen Hinterhof führte. Sobald ihn der Schatten der Einfahrt verschluckt hatte, ging mit ihm eine Verwandlung vor. Er richtete sich kerzengerade auf, nahm den Hut ab und anschließend die Perücke. Armand de Moulinsart schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann zog er aus einer Manteltasche ein winziges Mobiltelefon und wählte eine Nummer.
    Â»Er ist in der

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