Das Wörterbuch des Viktor Vau
Nachschublager geworden .«
»Das verstehe ich«, strahlte Marek.
»Sehen Sie sich unsere Welt an. Sie wird mehr und mehr zum Abbild der linken Hemisphäre. Rational, technokratisch, gefühllos, egoistisch. Alles Eigenschaften, die denen der linken Hirnhälfte entsprechen. Ich bin der beste Beweis dafür.«
»Sie meinen, wegen Ihrer perfekten Sprache?«, fragte Astarte.
Viktor stieà ein trauriges Lachen aus. »Nein, sie ist nur der Endpunkt einer langen Reise. Bereits als Kind war ich davon besessen, alles in Ordnung zu bringen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn um mich herum das Chaos herrschte. Aber das ganze Leben war Chaos, und ich musste einen Weg finden, es zu bezwingen, wenn ich nicht untergehen wollte.«
»Hört sich an wie ein Autist«, bemerkte Astarte.
»Da liegen Sie gar nicht so falsch. Wussten Sie, dass die Zahl der Autisten zunimmt? Zumindest dann, wenn Sie die Kinder mit Asperger dazurechnen, einer etwas milderen Form des Autismus? Auch das ist ein Zeichen für die zunehmende Dominanz der linken Hemisphäre. Sie fühlt sich vom Leben bedroht, weil es sich nicht in Systeme fassen, kategorisieren und katalogisieren lässt. Und vor allen Dingen nicht steuern.«
»Sie haben schon als Kind von der perfekten Sprache geträumt?«, warf Enrique ein.
»So ist es. Ich war der Ãberzeugung, wenn es mir gelänge, eine Sprache zu entwerfen, die jedes Phänomen exakt erfasst, dann bliebe kein Raum mehr für das Ungenaue, Unwägbare, kurz: Ich war überzeugt, damit das Chaos bändigen zu können. Was für eine Torheit!«
Erneut lachte er freudlos und fuhr sich mit der Hand durch das wild abstehende Haar. »Jetzt sehen Sie mich an, wohin mich diese Leidenschaft gebracht hat. Ich bin ein Opfer des Chaos geworden. Mein geordnetes Leben ist zusammengebrochen, meine Rituale sind mir genommen. Ich treibe wie ein Holzstück auf dem aufgewühlten Meer, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich untergehen werde.«
Für einen Augenblick schwiegen alle. Dann nahm Viktor den Faden wieder auf.
»Sie haben gefragt, woran ich meine These festmache. Nun, zum einen am Erfolg meiner Sprache. Ich habe sie seit mehreren Jahren meine Patienten in der Klinik gelehrt. Meine Theorie war, wenn meine perfekte Sprache ein Produkt der linken Gehirnhälfte ist, dann müsste sie in der Lage sein, die rationale Kontrolle eines jeden Einzelnen über seine Gedanken zu steigern. Meine Patienten sind fast ausschlieÃlich Schizophrene, also Menschen, bei denen die Kommunikation zwischen den beiden Hemisphären nicht mehr funktioniert. Durch das Erlernen meiner Sprache ist es gelungen, die linke Gehirnhälfte so zu stärken, dass die Krankheitssymptome deutlich zurückgehen. Also besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen meiner Sprache und den Bestrebungen der linken Hemisphäre.«
»Und wann sind Sie zu der Einsicht gelangt, dass diese ganze Entwicklung die Menschheit ins Verderben führt?«, fragte Astarte.
»Das war erst vor kurzer Zeit. Meine Patienten wurden geheilt, das ist wahr. Aber der Preis, den sie dafür bezahlen mussten, war hoch. Einer von ihnen war Musiker. Er arbeitet heute in einer Fabrik, weil er das Komponieren als unnütze Zeitverschwendung betrachtet. Eine andere Patientin hat wunderbare Gedichte geschrieben. Nach ihrer Entlassung hat sie sie alle zerrissen und verbrannt. Da wurde mir deutlich, dass die Nachteile einer exakten Sprache die Vorteile durchaus überwiegen könnten. Wobei das natürlich eine gesellschaftliche Entscheidung ist, ob man Kunst und Musik will oder nicht.«
» Ich will sie«, konstatierte Astarte.
Viktor wandte sich an Enrique. »Und was denken Sie darüber?«
»Es gab in der Geschichte immer rationale Gesellschaften«, sagte Enrique ausweichend. »Nehmen Sie beispielsweise die Römer.«
»Ein gutes Beispiel.« Viktors Lebensgeister schienen durch die Diskussion wieder etwas geweckt worden zu sein. »In der Tat waren die Römer, im Gegensatz zu den Griechen, eine Gesellschaft der linken Hemisphäre. Ordnung, Hierarchie, Verwaltung spielten für sie eine groÃe Rolle.«
»Aber was ist mit Philosophie, Kunst, Poesie?«, fiel Astarte ein. »Davon besaÃen die Griechen deutlich mehr. Im Verhältnis zur GröÃe ihres Reiches und zur Dauer ihres Imperiums waren die Römer ein ausgesprochen unkreatives
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