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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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brachten zuerst die Musik hervor und danach erst Wörter. Kinder singen, bevor sie sprechen lernen, und auch Tiere, die nicht sprechen können, verfügen über musikalische Fähigkeiten, zum Beispiel Vögel.«
    Â»Sie glauben also, dieser Stamm in Brasilien spricht eine Sprache, die aus der Vorzeit der Menschen stammt?«
    Â»So ist es. Vor allem ihre Verhaftung in der Gegenwart hat mich davon überzeugt, dass wir es hier mit der ältesten noch lebenden Sprache zu tun haben.«
    Â»Aber wenn diese Sprache bereits dokumentiert ist, was ist so besonders an Ihrem Wörterbuch?«, fragte Marek. »Und wieso meint Enrique, sie sei gefährlich?«
    Â»Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.« Viktor strich sich müde durchs Haar. »Denn Enrique hat uns allen etwas vorgespielt.« Er beachtete die fragenden Blicke nicht. »Was Ihre erste Frage betrifft, so ist die Antwort einfach. Das, was ich entdeckt habe, ist zwar ähnlich der Sprache der Pirahã, allerdings auch wieder anders. Das Besondere daran ist, dass wir alle sie sprechen und verstehen könnten. Denn es ist die Sprache der rechten Gehirnhälfte.«
    3.
    Verblüfft starrte Marek ihn an. »Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun?«
    Es war Astarte, die ihm darauf antwortete. »Die Wissenschaftler wissen schon seit langer Zeit, dass es eine Spezialisierung zwischen unseren Gehirnhälften gibt. Die rechte Gehirnhälfte ist zuständig für das Erkennen der Welt, das Neue, die ganzheitliche Betrachtung. Die linke Gehirnhälfte bekommt ihre Informationen von der rechten und ordnet und klassifiziert sie. Sie ist rational und arbeitet nur auf der Grundlage ihrer Erwartungen.«
    Viktor nickte. »Sprache hat ihren Ursprung in der Musik und damit in der rechten Gehirnhälfte. Das haben die Philosophen schon früh erkannt. Bereits Nietzsche und Heidegger identifizierten das apollinische Prinzip mit der rationalen, linken Hirnhälfte und das dionysische Prinzip mit der intuitiven rechten Hemisphäre.«
    Â»Musik und die frühe Musiksprache kommunizierten Emotionen und förderten den Zusammenhalt der Gruppe. Musik ist die Sprache der Gefühle, die fundamentale Art der Verständigung«, fuhr Astarte fort. »Und sie entspringt der rechten Gehirnhälfte. Deshalb ist es nur verständlich, dass die rationalen Theoretiker, beherrscht von der linken Gehirnhälfte, Musik als überflüssigen Unsinn abtun, der nichts mit der Menschwerdung und der Kommunikation untereinander zu tun hat.«
    Â»Okay, okay, das habe ich begriffen.« Marek kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nur nicht, was das Ganze mit der zweiten Sprache im Notizbuch zu tun hat.«
    Â»Das hat mit einer Entdeckung zu tun, die ich vor einigen Jahren bei der Arbeit mit meinen Patienten gemacht habe«, sagte Viktor. »Es waren Schizophrene, die vorgaben, Stimmen zu hören. Ein typisches und weitverbreitetes Symptom dieser Erkrankung.«
    Astarte spitzte die Ohren, als sie das Wort hörte. »Stimmen?«
    Enrique sah sie aufmerksam an. »Du hast richtig gehört. Ich bin sicher, du kannst uns darüber einiges erzählen. Hör dir die Geschichte nur vorher zu Ende an.«
    Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu, sagte aber nichts.
    Â»Es gibt eine Theorie, die ein Psychologieprofessor Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestellt hat«, nahm Viktor den Faden wieder auf. »Er hieß Julian Jaynes und behauptete, dass vor der Zeit, in der Homer die Ilias schrieb, die beiden Hirnhälften noch scharf voneinander getrennt waren. Als Beleg führte er an, dass wir es in der Ilias nicht mit Menschen zu tun haben, die über ihre Handlungen und Pläne reflektieren. Stattdessen hören alle in ihrem Kopf die Stimmen der Götter, die ihnen eingeben, was zu tun ist. Jaynes zufolge war das die rechte Gehirnhälfte, die noch nicht mit der linken integriert war und von dieser deshalb nur als Stimme der Götter wahrgenommen werden konnte.
    Das hat mich auf den Gedanken gebracht, ob nicht auch bei den Schizophrenen die Stimmen, die sie hören, in Wirklichkeit eine Kommunikation der rechten mit der linken Gehirnhälfte sind. Immerhin ist Schizophrenie eine relativ junge Krankheit. Vielleicht hat ihre Verbreitung auch etwas mit dem wachsenden Primat der linken Hemisphäre zu tun?«
    Â»Das heißt, die Stimmen, die alle gehört haben, werden von uns selbst produziert?«, platzte

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