Das Wörterbuch des Viktor Vau
Unterton.
»Nun, Professor Vau war nicht ganz ehrlich mit uns«, erklärte Enrique. »Er hat uns glauben machen wollen, dass seine Aufzeichnungen lediglich die Grundlagen einer vollkommenen Sprache enthalten. Eine Behauptung, die ihm nicht einmal die Sicherheitsdienste abgenommen haben.«
»Weil sie es nicht verstehen«, entgegnete Astarte vehement. »Wie sollen sie das auch? Sie wissen nicht, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, die von nichts als der Logik beherrscht wird! »
Enrique blickte sie vielsagend an. »Das mag sein. Aber sie wissen auch nicht, was wirklich in dem Notizbuch steht.« Er wandte sich an Vau.
»Wollen Sie es uns nicht verraten, Professor?«
Der schüttelte unwillig den Kopf. »Ich weià nicht, wovon Sie sprechen.«
Enrique lächelte. »Professor Vaus Notizbuch enthält auÃer der Sprache der Zukunft noch eine zweite Sprache, die weitaus gefährlicher ist.«
2.
Diesmal war das Erstaunen gröÃer, und das Schweigen dauerte länger. Astarte fing sich als Erste. Sie wandte sich zu Viktor.
»Stimmt das? Sie haben zwei Sprachen entwickelt?«
»Das kann man so nicht sagen.« Viktor schüttelte den Kopf. »Die zweite Sprache stammt nicht von mir, ich habe sie lediglich wiederentdeckt. Und es ist auch keine Sprache, wie wir sie kennen.« Er verstummte, doch die ungeduldigen Blicke der anderen lieÃen ihn nicht los. Er atmete tief durch.
»Ich muss ein wenig ausholen, um das zu erklären. Im Amazonasbecken in Brasilien gibt es den Stamm der Pirahã, der bis weit in die Neuzeit hinein unentdeckt geblieben ist. Sie sind Sammler und Jäger und haben sich bislang allen Versuchen, sie zu Ackerbauern zu machen, erfolgreich widersetzt. Das gelang ihnen aber nur, weil sie gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine gewisse Popularität erlangten.
Der Missionar und Linguist Daniel Everett, der die Pirahã zum Christentum bekehren sollte und zu diesem Zweck damit begann, das Neue Testament in ihre Sprache zu übersetzen, stellte zu seinem Erstaunen fest, dass ihre Sprache weder Zahlwörter noch Nebensätze enthält. Damit sind sie das einzige bekannte Volk auf der Welt, das aus der sogenannten Universalgrammatik ausschert, die allen Menschen angeblich angeboren ist. Mein alter Rivale Cornelius Brodhagen hat die Pirahã immer als einen Irrtum der Natur abgetan, und ich war lange seiner Meinung. Doch dann ereignete sich etwas, was mich zu einem Sinneswandel bewog.«
»Eine Sprache ohne Nebensätze?«, frage Astarte. »Damit sind ja keinerlei konditionale Aussagen möglich. Ohne Weil und Wenn, ohne AuÃer oder Deshalb â das kann ich mir nicht einmal vorstellen.«
Viktor nickte. »Es läuft allem zuwider, was wir über Sprache wissen. Die Pirahã leben ausschlieÃlich im Hier und Jetzt, sie sind unmittelbare Geschöpfe der Gegenwart. Und es gibt noch eine Besonderheit. Ihre Sprache ist so etwas wie ein einziges langes Lied, dessen Konstruktion aus Tönen, Betonungen und Silbenlängen so perfekt ist, dass sie völlig auf Konsonanten und Vokale verzichten können und ihre Unterhaltungen nur aus Gesängen, Summen oder Flöten bestehen kann.«
»Eine interessante Vorstellung«, grinste Marek. »Stellt euch mal vor, was man damit hier anfangen könnte! Absolut abhörsicher!«
Viktor reagierte nicht auf den Einwurf. »Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Wie wir heute wissen, gab es Musik, bevor es Sprache gab. Die Erforschung fossiler Fundstücke hat ergeben, dass die Kontrolle über Stimmbänder und Atmung bereits lange vor dem Erscheinen gesprochener Sprache möglich war. Das wird auch durch die Beobachtung von Kindern belegt. Erst bilden sich Betonung, Phrasierung und Rhythmus heraus, Syntax und Vokabular folgen viel später. Jeder kennt die sogenannte Babysprache, die von Fachleuten als Prosodie bezeichnet wird, die Musik der Sprache. Beim Sprechen mit ihren Kleinkindern verändern Mütter ihre Sprache: Sie verlangsamen das Sprechtempo, heben die Tonhöhe an und legen besonderen Wert auf den Sprachrhythmus. Wir können beobachten, dass bereits Säuglinge darauf reagieren, auch wenn sie noch kein Wort verstehen.
Es heiÃt, die Ontogenese würde die Phylogenese nachbilden, die Entwicklung des Einzelnen also der Entwicklung der Gattung folgt. Akzeptiert man diese These, so ist die Schlussfolgerung klar: Die Menschen
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