Das Wörterbuch des Viktor Vau
rekrutierte sich mehr und mehr aus den eigenen Reihen, einer kleinen Schicht, die höchstens ein oder zwei Prozent der Gesellschaft umfasst. Eine Oligarchie, die es bereits seit vielen Jahren gab, zeigte sich auf einmal ganz offen. Die Bürger, die keine Alternativen mehr sahen, reagierten mit zunehmender Wahlverweigerung. Nur die Idealisten und die, welche sich Hoffnungen machten, selbst in die Oligarchie aufzusteigen, beschäftigten sich noch mit Politik.
Die Dynastie war die logische Fortentwicklung. Heute versucht niemand mehr ernsthaft, die Illusion echter Demokratie zu vermitteln. Die Fraktionen der Dynastie unterscheiden sich lediglich in Nuancen â und in den Brosamen, die sie ihren Wählern versprechen. Und auch die wissen, was die Stunde geschlagen hat, und wählen halt den, der ihnen am meisten materielle Vorteile in Aussicht stellt, ohne wirklich zu glauben, dass er sein Versprechen auch einhält.«
Enrique schüttelte den Kopf. »Selbst wenn das, was du erzählst, stimmt, es ist nur deshalb so, weil es die Bürger zugelassen haben. Und damit ist es wieder demokratisch legitimiert.«
»Und die Korruption? Und die Lügen? Ist das auch alles demokratisch legitimiert ?« Astarte war aufgebracht. »Heute wird doch kein Beamter mehr entlassen, weil er Schmiergeld angenommen oder eine Vorschrift verletzt hat! Das ist der Alltag! Da kannst du Verwaltungstheorie studieren, so viel du willst! Die Realität hat mit deinen schönen Worten nichts zu tun.«
Enrique wollte etwas erwidern, aber Thura kam ihm zuvor. »Ich glaube, du machst einen groÃen Fehler, Enrique. Du verteidigst die Logik. Aber jede logische Schlussfolgerung beruht auf der vorhergehenden, und wenn der erste Satz nicht stimmt, dann ist alles, was danach kommt, auch falsch. Das ist das Fatale an der Logik: Sie führt dich in einen Irrgarten hinein und spiegelt dir vor, den Ausgang zu kennen. Aber in Wirklichkeit lässt sie dich da drin allein.«
»Und was soll die Alternative sein?« So schnell gab sich Enrique nicht geschlagen. »Gefühle sind rein subjektiv. Ich werde nie genau das empfinden, was du empfindest. Wie soll da eine Verständigung stattfinden? Das geht doch nur über den Verstand.«
»Ich brauche keine Logik, um zu wissen, wie es in dieser Gesellschaft zugeht«, warf Marek ein. »Dazu muss ich einfach nur meine Augen öffnen. Ich sehe, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Wer nicht ins Gefüge passt, wird von der Polizei gejagt. Und ihr Ziel ist es, alles, was wir tun, zu überwachen und zu kontrollieren. Da kannst du mit noch so viel Staatslogik auffahren, Mann. Mach lieber deine Augen auf!«
»Enrique ist ein Idealist«, sprang ihm Astarte bei. »Für ihn besteht das Leben aus einer einzigen groÃen Theorie, und alles, was da nicht reinpasst, ignoriert er einfach.«
Enrique spürte, wie ihn Astartes Bemerkung schmerzte. So dachte sie also über ihn? Unter allen hier am Tisch Versammelten war er doch der einzige Realist! Die Idealisten waren die anderen, allen voran Thura, die glaubte, den Gang der Dinge mit ihrem kleinen Haufen in irgendeiner Weise beeinflussen zu können.
»Und woher wisst ihr überhaupt so gut über die Dynastie und ihre Machenschaften Bescheid, wenn die Medien alle gleichgeschaltet sind?«, fragte er, vielleicht einen Ton zu laut. » Ich habe von all dem, was ihr erzählt, noch nichts bemerkt.«
»Ganz einfach«, sagte Thura leise. »Ich weià es, weil ich aus der Dynastie stamme.«
7.
Einen Moment lang starrten die drei Besucher ihre Gastgeberin an.
SchlieÃlich brach Astarte das Schweigen.
»Davon hast du mir nie erzählt.«
»Das war ja auch nicht erforderlich«, erwiderte sie mit ihrem milden Lächeln, das es Marek vom ersten Augenblick an so angetan hatte. So hatte auch seine Mutter ihn immer angelächelt, als er noch ein kleiner Junge war.
Thura war seit langer Zeit die erste Person, die ihn an seine Mutter erinnerte. Er hatte von der ersten Minute an das Gefühl, bei ihr die Sicherheit und Geborgenheit zu finden, die ihm als Kind verwehrt worden war und nach der er seitdem immer gesucht hatte.
»Wie kommt es dann, dass du aus jenen Kreisen ausgeschieden bist?«, fragte Enrique misstrauisch.
»Nun, es war eigentlich weniger meine Entscheidung als die meiner Familie«, erwiderte sie. »Mein Vater war ein hoher
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