Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
Vom Netzwerk:
richtet und das Individuum völlig ignoriert.«
    Â»Da siehst du es!«, rief Marek. »Das ist die Wirklichkeit deiner Theorien!«
    Â»Und dann? Was ist weiter passiert?«, fragte Astarte, bevor Enrique etwas antworten konnte.
    Â»Mein Mann suchte sich eine andere Arbeit, was ebenso schwierig war wie bei mir. Schließlich bekam er einen Job in einer Gyroscooter-Werkstatt. Natürlich verdiente er dort viel weniger, und wir mussten in eine kleinere Wohnung ziehen. Dazu kam, dass sein Vater ihm schwere Vorwürfe machte. Alles, was sich der alte Mann für seinen Sohn erträumt hatte, war verloren. Das wog für ihn schwerer als der Wandel seiner politischen Einstellung, die dem Alten ja hätte sympathisch sein müssen.
    Bei uns führte die ganze Situation zu einer Radikalisierung unserer Ansichten. Wir wollten nicht nur debattieren, wir wollten aktiv werden. Es begann mit Flugblättern, die wir heimlich in der Stadt verteilten, und Plakaten, die wir nachts an Fabriktore und Häuserwände klebten. Dann folgten kleinere Sabotageakte, vom Hacken von Websites bis zum Versiegeln von Behördentüren mit Klebstoff. Und als das alles nicht den gewünschten Erfolg brachte, entschlossen wir uns zu einer größeren Aktion. Wir wollten die Frequenzen des lokalen Radiosenders übernehmen und einen öffentlichen Aufruf ausstrahlen.
    Eines Abends kehrte mein Mann nicht mehr nach Hause zurück. An seiner Stelle erhielt ich Besuch von zwei Männern, die mir mitteilten, dass man seine Leiche am Stadtrand gefunden habe. Sie stellten es als Selbstmord dar, machten aber deutlich, dass ich sofort die Stadt verlassen sollte. Ich hätte es nur meiner Abstammung zu verdanken, dass ich jetzt nicht auch im Leichenschauhaus läge.«
    Einen Moment lang sprach niemand. Obwohl das Ereignis lange zurücklag, fiel es ihr offensichtlich immer noch schwer, davon zu berichten. Marek konnte das gut nachempfinden. Auch ihm kamen immer noch die Tränen, wenn er an den Tod seiner Eltern dachte, selbst wenn inzwischen fast zwanzig Jahre vergangen waren. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte Thura in die Arme genommen, um sie zu trösten.
    Â»Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt«, fuhr sie schließlich fort. »Nachdem ich meinen Mann bestattet hatte, zog ich hierher zurück. Wir hatten uns wie Amateure verhalten. Diesmal wollte ich die Sache professioneller angehen. Also gründete ich den Buchladen und kaufte das Fabrikgebäude dahinter.«
    Â»Wovon?«, unterbrach sie Enrique. »Du warst doch mittellos.«
    Â»Es fand sich ein Gönner«, lächelte sie. »Immerhin entstammte ich der Dynastie, und ich hatte noch ein paar Verbindungen aus der Zeit vor meiner Hochzeit. Dieser Gönner sorgte auch dafür, dass meine Akte aus den Unterlagen der Sicherheitsdienste verschwand.«
    Â»Das heißt, hier wurdest du nicht mehr überwacht?«
    Â»Doch, natürlich. Anfangs bekam ich noch regelmäßig Besuch von der Polizei, aber gerade die Sichtbarkeit war meine beste Tarnung. Vor dem, was sich direkt unter ihren Augen abspielte, brauchten sie keine Angst zu haben. So ließ die Überwachung von Jahr zu Jahr nach, und inzwischen kommen sie kaum noch hier vorbei. Wir sind für sie die harmlosen Spinner, die eine Gesellschaft benötigt, um den Anschein der Meinungsfreiheit aufrechtzuerhalten.«
    Thura sah in die Runde. »So, und nun genug über mich. Ihr seid ja sicher nicht hergekommen, um den Erinnerungen einer alten Frau zu lauschen. Was ist denn mit euch?«
    Astarte erzählte ein wenig über ihre neue Tätigkeit, und auch Enrique berichtete von seiner Arbeit im Bistro.
    Marek beobachtete Thura, während sie sich mit Astarte und Enrique unterhielt. Sie hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht, das trotz der Falten einen fast jugendlichen Elan ausstrahlte. Er fühlte sich ihr innerlich stark verbunden, obwohl er sie gerade erst kennengelernt hatte. Und als sich die beiden anderen auf den Heimweg machten, stand sein Entschluss fest.
    Â»Ich bleibe noch ein wenig, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er zu Thura.
    Sie betrachtete ihn mit einem wissenden Lächeln. Ȇberhaupt nicht. Du hast ja auch kaum etwas von dir erzählt. Vielleicht können wir das nachholen.«
    Enrique warf ihm einen warnenden Blick zu, aber das kümmerte Marek nicht.
    Er war endlich zu Hause

Weitere Kostenlose Bücher