Das Wörterbuch des Viktor Vau
vorhin deine Offenheit gegenüber Neuem so betont. Jetzt ist eine gute Gelegenheit, deinen Worten Taten folgen zu lassen.«
»Okay«, gestand Enrique ein. »Aber ich verstehe diese Ablehnung des Staates wirklich nicht. Der Staat beschützt den Bürger. Das ist seine Aufgabe. Es ist alles eine Frage der Logik. Viele Menschen haben etwas gegen den Staat, weil sie sich ihre Meinung impulsiv bilden, ohne darüber nachzudenken. Ich will damit sagen, dass die Welt vielleicht besser aussehen würde, wenn die Menschen sich nicht so sehr von ihren Emotionen leiten lieÃen.«
»Aber Emotionen sind es doch gerade, die uns menschlich machen«, widersprach Astarte. »Logisch denken kann jeder Computer. Nur Lebewesen haben Gefühle.«
»Deswegen führen Computer auch keine Kriege gegeneinander oder überfallen und betrügen sich. Warum fällt es euch so schwer zu akzeptieren, dass es seine Vorteile hat, sich vom Verstand lenken zu lassen? Damit plädiere ich ja gar nicht gegen Gefühle. Ich bin lediglich überzeugt, dass sie keinen Platz haben in der politischen Diskussion.«
»Nun, darüber lässt sich sicher streiten«, meldete sich Thura wieder zu Wort. »Aber was hat denn deine Logik mit dem Staat zu tun?«
»Das ist doch ganz einfach«, sagte Enrique. »Sind wir uns einig, dass sich eine Gesellschaft, die so viele Menschen umfasst wie diese, nicht selbst regulieren kann?«
Marek nickte zögernd. »Es würde wahrscheinlich schwierig.«
»Okay. Also braucht man eine Einrichtung, die diese Regulierungsaufgabe übernimmt und dafür sorgt, dass der Müll abgeholt wird, die Schulen funktionieren und der Stärkere nicht dem Schwächeren mit Gewalt nimmt, was ihm nicht gehört.«
Marek nickte erneut. An seinem Gesicht war abzulesen, dass er dabei nicht glücklich war.
»Diese Einrichtung ist der Staat«, fuhr Enrique fort. »Wie er gestaltet wird, bestimmen die Bürger selbst, indem sie zur Wahl gehen und so festlegen, in welche Richtung der Staat sich entwickeln soll. Wenn der Staat also unverzichtbar für das Zusammenleben der Menschen ist und diese demokratisch bestimmen, welche Ausprägungen dieser Staat annimmt, dann bedeutet das doch, dass der Staat für die Menschen und die Gesellschaft gut ist. Und wenn der Staat gut ist, dann kann nichts, was er tut, schlecht sein für die Menschen. Und jeder, der die staatlichen Handlungen sabotiert, stellt sich damit gegen das Gute, ist also per se schlecht.«
»Einspruch!«, rief Thura. »Da ist der entscheidende Denkfehler. In der Dynastie haben die Bürger nicht die Möglichkeit, irgendetwas Grundsätzliches zu bestimmen.«
»Aber sie können doch wählen«, beharrte Enrique.
»Auch Odysseus konnte wählen. Zwischen Scylla und Charybdis. So wie wir wählen können zwischen der einen oder der anderen Fraktion der Dynastie. Eine wirkliche Alternative gibt es nicht.«
»So?« Enrique sah sie skeptisch an. »Und wieso nicht? Es steht jedem frei, eine eigene Partei zu gründen und zur Wahl anzutreten.«
»Man merkt, dass du noch nicht lange in der Stadt bist«, seufzte Thura. »Das, was du vorschlägst, funktionierte schon in der Epoche der Postdemokratie nicht mehr, und das ist immerhin bereits ein paar Jahrzehnte her. Natürlich kannst du eine Partei gründen. Aber um sie bekannt zu machen, brauchst du erstens Geld und zweitens die Medien. Und beides wird von der Dynastie kontrolliert. Und selbst wenn es dir gelingen sollte, die Zehn-Prozent-Hürde zu überspringen, dann wärst du noch immer nicht am Ziel. Im besten Fall wirst du einfach von der Dynastie kooptiert. So ist das damals gewesen, und so ist es auch heute.«
Marek machte ein fragendes Gesicht. »Postdemokratie?«
»Das war die Zeit vom Anfang des Jahrtausends bis vor etwa zwanzig Jahren. Damals setzte der schleichende Veränderungsprozess der Demokratie ein. Formell blieben alle demokratischen Institutionen und Prozeduren erhalten, aber sie verloren massiv an Bedeutung für die demokratische Entscheidung. Die Inhalte der Politik wurden nicht mehr durch die Bürger, sondern durch ein Konglomerat aus Politikern, Wirtschafts- und Bankenführern bestimmt. Die Bürger wurden entmachtet, auch wenn nach auÃen hin alles so aussah, als funktioniere die Demokratie noch.
Der Nachwuchs an der Spitze von Wirtschaft und Politik
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