Das Wörterbuch des Viktor Vau
Dass du trotzdem hier bist, rechne ich dir hoch an.«
»Ich bin eben offen für Neues«, brummte er. »Das würde ich mir von anderen ebenfalls wünschen. Merkwürdig, dass man immer dann auf unverrückbare Vorurteile stöÃt, wenn man etwas zur Verteidigung des Staates sagt.«
»Ich sehe schon, wir haben da ein hochinteressantes Thema«, sagte Thura. »Das können wir im Sitzen viel besser diskutieren als im Stehen.«
Sie folgten ihr in das winzige Büro, das kaum für sie alle Platz bot. Thura öffnete eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Seite. Enriques Augen weiteten sich. Vor ihnen lag ein hoher, heller Flur, der eher an eine Schule oder einen Bürotrakt erinnerte als an einen Buchladen.
»Der Buchladen grenzt direkt an ein ehemaliges Fabrikgebäude«, erklärte sie. »Das war auch einer der Gründe, warum wir diesen etwas abgelegenen Standort gewählt haben.« Sie öffnete eine Tür, die in einen groÃen Raum führte, der wie ein Klassenzimmer eingerichtet war. »Hier führen wir unsere Sprachkurse durch. Astarte erinnert sich gewiss noch daran.«
»Und ob«, lächelte Astarte. »Sechs Stunden täglich. Ihr habt uns ganz schön gequält.«
»Mit Erfolg, wie man hört.«
»Aber manchmal war es übermäÃig viel, was wir von einem Tag zum anderen alles auswendig lernen mussten.«
Thura hob entschuldigend die Hände. »Mir fällt das Auswendiglernen leicht. Ich brauche mir einen Text nur anzusehen, und schon bleibt er im Gedächtnis.«
»Bemerkenswert«, sagte Enrique.
»Nun, jeder hat seine Begabungen. Meine ist das Erinnern. Es ist mein Fehler, dass ich annehme, allen anderen geht es ebenso.«
Sie stieà die Tür zum nächsten Raum auf. Hier arbeiteten mehrere junge Männer und Frauen an Computern, den neuesten Modellen. Zwei Frauen standen vor einer groÃen Wandtafel, die ein Flussdiagramm zierte, und diskutierten. Auf einem Tisch warteten mehrere Drucker neben Stapeln von Papier auf ihren Einsatz.
»Das ist gewissermaÃen unsere Propaganda-Abteilung«, sagte Thura. »Von hier aus bestücken wir unsere Websites und Blogs mit Inhalten. AuÃerdem gestalten und drucken wir hier unsere Flyer und Broschüren.«
Der nächste Raum enthielt zwei Racks mit Servern. Danach folgten drei weitere Schulungsräume. Durch eine letzte Tür kamen sie in eine kleine Cafeteria, komplett mit Küchenzeile, Espressomaschine und Kühltheke. Thura bat ihre Besucher, Platz zu nehmen.
Nachdem sie jeden ihrer Gäste mit einem Getränk versorgt hatte, blickte sie erwartungsvoll in die Runde.
»Lasst uns diskutieren!«
6.
Zunächst unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten. Enrique erfuhr, dass Thura in einem ihrer Hinterzimmer Sprachkurse für mittellose Neuankömmlinge gab, eine kostenlose Garküche in den Armenvierteln am Stadtrand betrieb und zahlreiche Websites unterhielt, welche unter verschiedenen Deckmäntelchen ihre anarchistischen Theorien zu verbreiten suchten. AuÃerdem befand sich in den Räumlichkeiten eine kleine Druckerei, in der sie und ihre Freunde Pamphlete gegen die Dynastie herstellten und Bücher in kleinen Auflagen, die über den Buchladen und einen Versandhandel vertrieben wurden.
»Und wer bezahlt das hier alles?«, war Enriques erste Frage. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Buchladen genügend abwirft.«
»Da hast du recht«, erwiderte Thura. »Und du wirst verstehen, dass ich dir deine Frage nicht ganz vollständig beantworten kann. Denn immerhin ist das, was wir hier unternehmen, in den Augen der Dynastie so etwas wie Hochverrat, auch wenn wir uns gerne als die wahren Patrioten bezeichnen. Da ist es wichtig, dass wir unsere Geldquellen schützen. Ein Teil kommt aus dem Laden, ein Teil sind Spenden, und ein weiterer Teil wird uns von Leuten zur Verfügung gestellt, die ich groÃherzige Menschen nennen würde.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Kampf gegen den Staat von mehr als einer Handvoll ideologisch Verwirrter unterstützt wird?« Die Zweifel in Enriques Stimme waren unüberhörbar.
»Erstens kannst du mich duzen. Das tun wir alle hier. Zweitens gibt es sehr viele Menschen, die mit dem Staat unzufrieden sind, obwohl nur wenige den Mut haben, das auch offen zuzugeben. Und drittens sehe ich mich nicht als ideologisch verwirrt. Du hast doch
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