Das Wolkenpferd
Man stelle sich vor, Didi müsste jedes Mal, wenn Mäuschen einen Hufkratzer aus der Stallgasse stibitzt hat, über den ganzen Hof rufen: „Mercedes vom Asgardhof, auf der Stelle bringst du den Hufkratzer zurück!"
Jetzt schimpft er nur: „Mäuschen - zurück!" -Und schon flitzt die Kleine los und bringt den geklauten Hufkratzer wieder her. Mäuschen gehört zur Familie, obwohl sie kleiner ist als eine Tüte Leckerli.
Wenn Didi ausreiten will, springt sie schnell bei mir in den Sattel - bevor er aufsitzen kann. Das ist die blanke Eifersucht! Sie weiß genau, dass ich im Gelände meinen Didi für mich allein habe, und das passt ihr nicht. Dabei haben Mäuschen und ich auch oft unseren Spaß zusammen, zum Beispiel morgens im Paddock. Dann spielen wir das Uberlebensspiel.
Jedenfalls nennt Didi das so. Bevor ich mich genüsslich zum Wälzen auf den Boden werfe, rast Mäuschen noch in letzter Sekunde unter mir durch. Das geht nur: ziiischsch!
Didi und die anderen am Gatter schlagen dann immer entsetzt die Hände vors Gesicht. „Eine Zehntelsekunde langsamer, und Winnie macht sie platt", stöhnen sie.
Alles Quatsch. Typische Vermenschlichung von Pferden!
Die Zweibeiner messen uns immer mit ihren Maßstäben. Mäuschen und ich reagieren selbstverständlich erheblich schneller als jeder Mensch. Aber das können die am Gatter einfach nicht begreifen. Das ist wohl auch der Grund, warum sie als Mensch auf die Welt kommen mussten und kein Pferd werden durften ...
Wenn ich Didi dann meinen „Mach-dir-nichts-
draus-dass-du-nur-ein-Mensch-bist-Blick" zuwerfe, zieht er mir die Ohren lang und schimpft im Spaß: „Du undankbarer Kerl, wer hat dich denn gerettet?"
Mit diesem Spruch kann er mich immer wieder weich klopfen.
Didi hat mich nämlich wirklich gerettet.
Das ist zwar schon 15 Jahre her, aber ein Pferd mit Charakter wie ich vergisst so etwas nie.
Fast wäre ich verhungert, und das ist kein Scherz.
Mein Züchter hatte nämlich gar keine Ahnung vom Züchten. Wir Pferde standen jahrelang auf einer Wiese, auf der kaum Gras wuchs. Weil ich nichts Richtiges zu fressen kriegte, war ich mit drei Jahren noch so klein wie ein Fohlen.
Zum Glück haben dann nette Leute dem Tierschutzverein Bescheid gesagt, und der Züchter musste uns alle zum Verkauf freigeben.
So wurde Didi auf mich aufmerksam, hat mich gesehen und sofort gesagt: „Der kleine
Braune da hinten kann lesen und schreiben, das sieht man gleich."
Klar, dass ich nicht wirklich lesen und schreiben kann, aber damit meinte Didi, dass ich clever aussehe. Und damit hat er unbedingt Recht.
Didi hat mich damals ohne viel zu reden eingepackt und mitgenommen.
Dann hatte ich es gut! Er gab mir leckeres Fohlenfutter, um mich aufzupäppeln, und arbeiten brauchte ich ein Jahr lang überhaupt nicht.
Wenn jemand zu Didi sagt, dass er es toll findet, dass er mich gerettet hat, dann ist ihm das fürchterlich peinlich, und er knurrt etwas von „der Wallach war ja spottbillig" und so. Dann gucke ich ihn nur von der Seite an, und er weiß genau, was ich denke. Von wegen spottbillig! Ein Jahr lang teures Kraftfutter kaufen, um ein halb verhungertes Pferd großzuziehen ...
Als ich sechs war, erklärte Didi mir, dass seine Spezialität die Vielseitigkeit sei.
Das gefiel mir gut, denn vielseitig bin ich auch. Ich mag zum Beispiel außer Hafer und Pellets auch Möhren, Äpfel, Bananen und trockenes Brot.
Aber Didi verstand unter Vielseitigkeit leider etwas ganz anderes als ich, nämlich Dressur, Springen und Geländeritte. Zuerst war ich ziemlich ärgerlich, weil Menschen immer etwas anderes meinen als sie sagen. Aber andererseits wollte ich Didi einen Gefallen tun. Und weil wir beide so gut zusammenpassen, bin ich inzwischen ein gefürchtetes Vielseitigkeitspferd geworden.
Jetzt im Sommer sind Didi und ich der Schrecken der Turniere hier bei uns, denn jedes Mal stauben wir etwas ab. Mal den zweiten, mal den dritten, manchmal auch den ersten Preis.
Die Preisrichter sollten allmählich eine CD aufnehmen: „Gewonnen hat der Holsteinerwallach Vincent, geritten von Dieter Almstadt."
68 Siegerplaketten hat Dieter schon an meine Boxentür genagelt, damit jeder sieht, was für ein Superkerl ich bin. Na ja, bald werde ich schon 18 Jahre alt! Wir hatten also Zeit genug, sie zu sammeln.
Einmal habe ich sogar den dritten Platz bei einem Turnier geschafft, bei dem auch Olympiareiter mitmachten.
Damals kam ein Reporter und hat Didi gefragt, ob er nicht richtig
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