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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu bleiben.
    Dann lag die Baumgrenze vor ihr, ein geheimnisvolles G e flecht aus den vorderen hellen Stämmen und dem un durch dringlichen Schwarz dahinter, zu dunkel für das lichte Laub, so als wäre da noch etwas anderes oben in den Kronen, das der Helligkeit den Weg zum Boden verwehrte. Dabei sah sie nur Zweige und knorrige Astgabeln, miteinander verwoben zu etwas, das den Himmel aussperrte und die Schatten allgege n wärtig machte.
    Um nichts in der Welt würde sie auch nur einen Fuß unter diese Bäume setzen.
    Aber um mehr erkennen zu können, musste sie näher heran.
    Noch näher.
    Niccolos Gesicht tauchte aus ihrer Erinnerung empor. Er musste mit seinem Luftschlitten inmitten dieses Tals gelandet sein. Selbst wenn er seine Bruchlandung heil überstanden hatte – und sie zweifelte nicht daran, dass es eine Bruchlandung gewesen war –, stand er allein gegen … ja, gegen was eigen t lich?
    War er überhaupt noch am Leben?
    Sie haderte mit sich selbst. Mit dem Wunsch, alles über die Gefahr aus dem Wald in Erfahrung zu bringen, aber auch mit ihrer Furcht vor dem Unbekannten. Zuletzt beschloss sie, noch ein wenig näher an die Baumgrenze heranzupirschen, trotz ihrer zitternden Knie und der Schmerzen in ihrem Rücken und den aufgescheuerten Handflächen.
    Das hohe Gras und die immer niedrigeren Felsen verbargen sie nur noch unzureichend. Schlimmer noch: Da ihre Gegner sich in den Baumkronen aufhielten, mussten sie Alessia von dort oben längst entdeckt haben. Diese Erkenntnis kam ihr, als keine fünfzig Schritt mehr zwischen ihr und dem Waldrand lagen. Es hätte sie nicht wenige r e rschüttert, hätte man sie aus heiterem Himmel mit einem Kübel Eiswasser übergossen. Oder ihr von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt.
    Sie verharrte und blieb nah am Boden, auch wenn sie jetzt keinen Zweifel mehr hatte, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Sie hatte sich schlichtweg verrechnet, hatte sich auf Augen in Höhe ihrer eigenen eingestellt, nicht auf welche, die acht oder zehn Meter hoch in den Baumkronen schwebten.
    Falls da Augen waren.
    Der Drang, sich herumzuwerfen und zu fliehen, war kaum mehr auszuhalten. Aber Alessia widerstand ihm, nicht allein aufgrund ihrer Entschlossenheit, sondern auch, weil ihre Beine sich weigerten, ihr zu gehorchen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann wäre sie wohl einfach hier sitzen geblieben. Augen zu, die Hände vor die Ohren. Und abwarten, bis alles vorüber war.
    Es erforderte eine ganze Menge Überwindung, sich langsam aufzurichten, das Gesicht zum Wald, die Fäuste geballt, jede r zeit bereit, sich herumzuwerfen und zu fliehen.
    Die Baumkronen bewegten sich wieder. Zweige bogen sich knarrend in ihre Richtung, Astgabeln fächerten auseinander und streckten sich ihr entgegen wie Hände. Sie lockten sie. Sie riefen sie.
    Komm zu uns! Komm her!
    Alessia blieb stehen. Und nun sah sie etwas.
    Es war die ganze Zeit über da gewesen. Ein Wall aus lebe n dem Astwerk, aus Rinde, aus knorpeligen Gelenken und verdrehten hölzernen Gliedern. Baumgleich und doch keine Bäume. Eine Heerschar, eine ganze Arme e d ort oben in den Kronen, von einem Ende des Waldrands bis zum anderen, soweit Alessias Augen blicken konnten.
    Aber warum sprangen sie nicht herab zu ihr und packten sie mit ihren Borkenklauen? Weshalb starrten sie nur herüber, sie alle, hunderte, tausende, mit winzigen schwarzen Augen?
    » Was wollt ihr von uns? «, rief sie ihnen entgegen.
    Und bekam keine Antwort.
    » Warum seid ihr hier? «
    Aber hätten nicht auch sie diese Frage an Alessia richten können? Sie war der Eindringling, nicht diese Wesen. Das Volk der Hohen Lüfte gehörte in die Wolken, hoch hinauf in den Himmel. In Wahrheit war Alessia die Fremde, nicht diese Kreaturen aus Rinde, Holz und Harz.
    Sie machte zögernd drei, vier weitere Schritte auf die Bau m grenze zu. Die lockenden Arme winkten sie näher heran. Den Bewegungen der Wesen in den Kronen haftete mit einem Mal etwas Hypnotisches an, etwas, das sie zutraulich erscheinen ließ, beinahe schön. Alessia hatte einmal in einem verbotenen Buch etwas über einen Schlangenbeschwörer gelesen. Die Bewegu n gen seines Reptils hatte sie sich vorgestellt wie das Schlängeln dieser Zweigarme und Astfinger, so anmutig, so beruhigend.
    Sie war drauf und dran, sich in die Umarmung des Waldes zu begeben.
    Doch plötzlich erwachte ein Rest von Vernunft in ihr, schrie ihr eine Warnung zu, die sie schlagartig aufrüttelte, zurückta u meln und erkennen ließ, was da

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