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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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spüren! –, nahe genug an die Baumgrenze heran, um zu sehen, was sich dort unten tat. Ob etwas näher kam und, falls ja, was es war.
    Sie befahl ihrem Pferd, auf sie zu warten, und warf einen letzten Blick über die Felder in Richtung der Ortschaft. Täuschte sie sich, oder näherten sich von dort Menschen? Bauern wah r scheinlich, so wie vorhin am Pass. Doch je länger sie hinsah, desto deutlicher erkannte sie das Blitzen von Metall. Soldaten. Sie hatten Rüstzeug angelegt, das sie sonst nur bei den seltenen Aufmärschen zu Ehren der Herzogsfamilie trugen – zum letzten Mal bei Alessias fünfzehntem Geburtstag vor drei Monaten.
    Wenn die Soldaten erst hier waren, konnte sie ihren Plan vergessen. Man würde sie niemals den Felsspalt hinabsteigen lassen. Sie hörte schon die empörten Widersprüche, die Erma h nungen, das herablassende Getue der Erwachsenen: Es ist zu gefährlich, Kind! Und nichts für ein Mädchen! Sei doch vernünftig!
    Entschlossen fuhr sie herum und machte sich an den Abstieg.
    * * *
    Sie hatte ihr dunkelrotes Haar zu einem Pferdeschwanz g e dreht und notdürftig in den Kragen ihres Wamses geschoben, damit es nicht in ihre Augen fiel. Ihr Gesicht kribbelte wie von einem Sonnenbrand, so als wollten selbst ihre Sommersprossen sie von ihrem Vorhaben abhalten. Seitlich zwängte sie sich in den Spalt, den Rücken zur einen Felswand, die Füße an der anderen; Alessia passte gerade so hinein. Ächzend schob sie sich abwärts. Schon bald taten ihre Schulterblätter weh, als stünden sie in Flammen. Wahrscheinlich war ihr Wams aufg e rissen, und die Haut schmirgelte über blanken Fels. Ihre Muskeln waren ein einziger Krampf.
    Die Enge machte ihr zu schaffen, erst recht, nachdem der Rand der Wolkeninsel die offene Seite des Felsspalts versiegelte. Sie konnte jetzt nur noch nach oben oder unten, und wenn sie abrutschte – oder der Riss unvermittelt breiter wurde –, gab es kein Entrinnen vor einem Sturz.
    Irgendwann wurde es wieder heller, und diesmal meinte das Schicksal es gut mit ihr. Nicht weit unterhalb der Wolkendecke ging die Bergwand in einen schattigen Felshang über. Der Riss endete in einer Ansammlung von Steintrümmern und losem Geröll. Alessia kroch ins Freie und blieb eine ganze Weile auf dem Bauch liegen, zu erschöpft, um sich zu rühren.
    Erst nach einer ganzen Weile hob sie den Kopf und schaute sich um. Unmittelbar über ihr schwebte die Unterseite der Wolkeninsel wie ein weißgrauer Deckel, der auf den Rändern des Tales lag. Etwa hundert Meter unter ihr waren die Felsen am Hang von dunkelgrünem Moos bewachsen, gefolgt von einem Streifen Gras und Buschwerk. Dahinter erhob sich, noch immer hoch übe r d em Talboden, die Mauer des Waldes, massiv und schwarz, als hätten Riesen seine Grenze mit einem gigantischen Spaten abgestochen. Die Wipfel und Baumkronen schüttelten sich, als tobte dort unten ein heftiger Sturm, doch Alessia spürte nichts als eine Brise, die sanft den Berg heraufstrich.
    Die unmenschlichen Schreie, die sie vom Steg des Schatte n deuters aus gehört hatte, waberten über dem ganzen Tal. Hier klangen sie noch lauter und näher. Für Alessia hörten sie sich gequält an, doch die Wahrheit war wohl eher, dass sich die Kreaturen damit gegenseitig aufpeitschten wie heulende Wölfe auf der Jagd.
    Sie sind schon so nah, durchfuhr es sie. Einen Moment lang musste sie gegen ihre Panik ankämpfen. Die Möglichkeit, sich herumzuwerfen und zurück auf die Wolken zu klettern, war verlockend. Die Soldaten hatten mit Sicherheit längst ihr Pferd erkannt und standen bereit, um ihr hinaufzuhelfen.
    Aber willst du das wirklich?, fragte sie sich. Zum ersten Mal stehst du auf festem Boden. Zum ersten Mal sind es nicht die Zeitwindpriester, die du fürchten musst. Oder der Wankelmut deines Vaters. Alle Entscheidungen, die hier unten fallen, sind ganz allein deine.
    Ganz allein deine.
    Was hätten wohl andere über sie gedacht, hätten sie gewusst, was in ihr vorging? Sie war die Herzogstochter, die Alleinerbin ihres Vaters. Eine Medici.
    Die Wahrheit aber war, dass kaum ein Tag verging, an dem sie sich nicht tief im Inneren fürchtete. Vor der Zukunft, in der sie die Wolkeninsel regieren sollte. Vor den Priestern, die eine weibliche Herrscherin nicht akzeptie ren wollten. Sogar vor ihren Untertanen, rebellischen Geistern wie Niccolo, von denen es vermutlich insgeheim mehr gab, als ihr Vater und seine Ratg e ber ahnten.
    Rebellische Geister wie Alessia selbst.
    Sie wusste genau, was

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