Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Wolken errichtet hatte. Der Berg stieg beängstigend steil nach oben, der Gipfel verlor sich in höheren Dunstschichten. Alessia hatte noch nie etwas so Großes, so Massiges aus nächster Nähe gesehen. Sie musste sich überwi n den, zögernd aus dem Sattel zu gleiten und zu Fuß auf die Felswand zuzugehen.
Sie wagte sich bis auf ein paar Schritt heran. Auf dem letzten Stück ging es abwärts, und sie wollte nicht in dem engen Winkel zwischen Wolke und Stein eingeklemmt werden. Dann aber erinnerte sie sich, dass Niccolo erwähnt hatte, wie er den Fels berührt hatte. Sie war zu stolz, um vor irgendetwas zurückz u schrecken, das er bereits getan hatte, und so stieg sie die letzten Meter hinab und betastete den eiskalten Stein. Er war scharfka n tig und ungleich härter als die Wolkenmasse, auf der das Volk der Hohen Lüfte lebte.
Sie wandte sich nach links und lief an der Wand entlang, bis sie zu der Stelle kam, an der sich der Stein vom Rand der Wolkeninsel löste und zurückwich. Von hier aus konnte sie mit einiger Mühe in die Tiefe blicken, geradewegs an der Felswand hinab, und sie erkannte, dass die Baumgrenze noch ein gehör i ges Stück weit entfernt war. Was immer dort unten den Wald in Aufruhr versetzte, es konnte nicht ohne weiteres auf die Wolken überwechseln; dazu war der Fels viel zu steil.
Sie wollte auch die beiden anderen Stellen in Augenschein nehmen, an denen die Berge die Wolkenmasse berührten. Geübt sprang sie in den Sattel und preschte los. Im Vorbeireiten schenkte sie dem Hof der Spinis einen bedauernden Blick. All die vielen Bücher. Sie hätte gern angehalten und darin gestöbert. Schon bei ihrem ersten Besuch in Cesares Haus hatte sie sich zusammenreißen müssen.
Der zweite Felsgipfel, der die Wolkeninsel festhielt, wuchs im Südosten empor. Er war ähnlich schroff wie der erste und kaum einfacher zu erklimmen. Der Ort, an dem er an die Wolke grenzte, lag schwer zugänglich am Ende eines Passes zwischen zwei weißen Wolkenbergen. Als sie dort eintraf, erwarteten sie bereits mehrere Bauern von den Ländereien ihres Vaters, angelockt von ihrer Neugier auf die fremdartige Felsmasse. Sie erschraken, als sie die Herzogstochter erkannten, aber Alessia gab ihnen zu verstehen, dass sie Wache halten sollten für den Fall, dass sich irgendetwas von unten an den Felsen heraufb e wegen sollte. Das verwirrte die Männer, aber sie versprachen, ihr Bestes zu tun.
Die dritte und letzte Stelle, an der die Wolkeninsel da s G ebi r ge berührte, befand sich im Süden. Sie war leicht zu erreichen, ein Ausläufer der kleinen Ebene, die sich von der Ortschaft im Wolkental bis zur Kante erstreckte. Hier trieb man Ackerbau in niedrigen Wolkensenken, die vor langer Zeit mit Muttererde aufgefüllt worden waren. Eine saftig grüne Weide, durch die hier und da weiße Wolkenbuckel lugten, reichte bis zum Rand – und zu dem Berg, der sich gleich dahinter erhob. Kühe grasten vor der beeindruckenden Kulisse, als sei nicht das Geringste geschehen.
Die Gebirgswand führte als schrundige Schräge aufwärts, höher hinauf in die wabernden Dunstschichten. Der Aufprall der Wolkeninsel hatten einen Felssturz verursacht, dessen Trümmer sich über den Rand ergossen hatten. Offenbar war das erst kürzlich geschehen, nicht sofort nach dem Absturz – sonst hätte schon früher jemand den Spalt bemerkt, der sich aufrecht durch die Felswand zog.
Alessia stieg über Geröll und umrundete mannshohe Brocken, ehe sie den dunklen Riss erreichte. Der Rand der Wolkenmasse presste sich dagegen, und doch schien Helligkeit von unten herauf. Alessias Atem stockte. Offenbar setzte sich der Spalt auch unterhalb der Wolke fort. Er war breit genug, dass ein Mensch mit einiger Mühe durch ihn abwärts klettern konnte.
Ihr Herzschlag raste. Anders als an den beiden Steilwänden im Norden und Südosten gab es hier die Möglichkeit, die Insel zu verlassen! Wenn es ihr gelänge, sich durch den Spalt nach unten zu zwängen, am Rand der Wolken vorbei …
Sie hatte keine Ahnung, was sie dort erwartete, aber ei nen Versuch, ja, den war es wert. Dabei hatte sie nicht einmal Ausrüstung dabei. Kein Seil, keine Verpflegung, erst recht keine Waffe. Sicher, es wäre Wahnsinn gewesen, Niccolo ohne jede Vorbereitung in die Tiefe zu folgen, nur weil sie es wollte und wütend war über das Verbot ihres Vaters. Doch was sprach dagegen, die Lage auszukundschaften? Nur ein Stück weit den Berg hinabklettern – und dabei echten Boden unter den Füßen
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