Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
fünfundzwanzig oder fünfundvierzig Jahre alt bin? Es gibt ja keine Erinnerungen, an denen ich das festmachen könnte. Ich weiß nicht mal, wie ich in Wirklichkeit aussehe. «
Alle drei starrten eine Weile lang gedankenverloren ins Feuer. Feiqings Worte waren tiefsinniger, als Niccolo es von ihm erwartet hätte. Sein lächerliches Äußeres und sein Gejammer täuschten über die Tragik seines Schicksals hinweg – und über die Tatsache, dass sich unter der plumpen Kostümierung ein wacher Verstand verbarg.
Feiqing hob den Blick und sah Niccolo aus seinen dunke l braunen Augen an. » Was ist mit dir? Erzählst du uns deine Geschichte? «
Niccolo zögerte. Er sah von einem zum anderen und fand aufrichtige Neugier in beider Augen. Gedehnt holte er Luft, stocherte mit einem Zweig im Feuer und berichtete ihnen schließlich alles, was geschehen war. Über sein Volk und seinen Vater, den Absturz der Wolkeninsel und seinen Auftrag, den Aether eines Drachen einzufangen und zurückzubringen.
» Auf den Wolken lebe n «, murmelte Feiqing beeindruckt. » Das klingt wundervoll. So weit weg von allem Schlechten in der Welt. «
» Und so weit weg von allem Gute n «, konterte Niccolo. » Glaub mir, Schlechtes gibt es auch bei uns genug. « Er dachte an die Zeitwindpriester und ihre ehernen Gesetze, an das Bücherverbot, den Ausschluss seines Vaters aus der Gemei n schaft, sogar an Alessias Arroganz. » Eigentlich wollte ich immer nur fort von der Insel. Ich wollte nichts mit den anderen zu tun haben, schon gar keine Verantwortung für irgendwen übernehmen. Aufgebrochen bin ich, weil ich Angst um meine Tiere hatte – und die habe ich immer noch –, aber ich wusste ja nicht mal, ob es wirklich Drachen gibt und, falls ja, was dran ist an der Geschichte vom Aetheratem. «
» Es gibt Drache n «, sagte Nugua. » Ich weiß nicht, ob es das ist, was du suchst – aber wenn sie ausatmen, steigt ein goldener Dunst zum Himmel. Man kann ihn kaum sehen, und nur dann, wenn die Sonne durch den Regen scheint und ein Regenbogen über den Bergwäldern steht. «
Niccolos Kopf ruckte hoch. » Das muss der Aether sein! Das ist er ganz bestimmt! «
» Klingt, als hättest du noch nie welchen gesehe n «, bemerkte Feiqing.
Niccolo schüttelte den Kopf. » Die Pumpen leiten ihn direkt in die Wolken. Sonst würde er sofort wieder aufsteigen und verschwinden. «
Sie alle hatten an diesem Abend mehr von sich preisgegeben als an einem der Tage zuvor. Niccolo war noch ein wenig unwohl dabei, doch zugleich fühlte er sich erleichtert. Er hatte das Geheimnis des Wolkenvolks verraten – eigentlich ein unerhörtes Vergehen –, aber weder hatte ihn dafür ein Blitz erschlagen, noch war der Himmel über ihm eingestürzt. Und er hatte das Gefühl, dass aus dem, was ihn mit Nugua und Feiqing verband, mit einem Mal etwas geworden war, das dem Beginn einer Freundschaft ziemlich nahe kam. Für ihn war das ein neues Gefühl. Er hatte niemals Freunde gehabt, abgesehen von seinen Tieren und dem alten Emilio.
Sie legten sich schlafen, nachdem das Feuer zu einem Haufen knisternder Glut heruntergebrannt war. Rund um sie knarrte der Bambuswald. Feiqing war in seinem wulstigen Drachenleib dick verpackt und schien niemals zu frieren, aber Niccolo fröstelte von den kühlen Bergwinden, die an den Hängen Sichuans entlangstrichen. Nugua wickelte sich nachts in eine Decke, die sie tagsüber winzig klein zusammenknüllte und in ihrem Bündel verstaute; sie bestand nicht aus Gewebe, sondern aus einem sonderbaren Material, das wie dünnes, halb durchsichtiges Papier aussah.
Im Dunkeln bemerkte er, dass sie ihn verstohlen beobachtete. Er wälzte sich unruhig hin und her, rieb die Gänsehaut auf seinen Armen und rollte sich enger zusammen. Das Mondlicht brach sich in ihren offenen Augen, ein weißes Blitzen wie Sternschnuppen im Schatten.
» Das kann ja niemand mitansehe n «, flüsterte sie nach einer Weile. » Du frierst. «
» Es geht scho n «, log er.
» Bei mir ist noch Platz. « Sie hob einen Zipfel ihrer Decke.
» Ich soll mit darunter kommen? «
» Drachenhau t «, sagte sie, ohne die Frage zu beantworten. » Es gibt nichts Besseres. Wenn ein Drache sich häutet, ungefähr alle dreihundert Jahre, dann bleibt das hier zurück. «
» Sieht eklig aus. «
» Du kannst ja weiterfrieren. «
» Und du willst sie wirklich mit mir teilen? «
» Bevor ich mir weiter den Krach anhöre, den du veranstaltest – warum nicht? «
» Weil du ein Mädchen bist und
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