Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Vielleicht gab es gar keinen Drachenfriedhof und keinen Wächterdrachen. Vielleicht war die ganze Legende vom Aetheratem nichts als ein Gerücht, nichts als blühender Unsinn. Ebenso wie die verzweifelten Hoffnungen des Wolke n volks.
Doch dann, in der ersten Nacht in Sichuan, sagte Nugua plötzlich: » Ich möchte euch etwas erzählen. Von den Drachen. «
Feiqing war in der Wärme des Lagerfeuers damit beschäftigt, getrocknete Schlammschuppen von seinem Bauch zu bröckeln, während Niccolo einmal mehr ihr e R ationen neu einteilte; sie wurden von Tag zu Tag kleiner. Beide blickten auf.
Nuguas Züge glänzten im Flammenschein. Sie sah von einem zum anderen, bis sie sicher war, dass sie die volle Aufmerksa m keit der beiden hatte. Dann senkte sie die Augen, starrte ins Feuer und begann ihren Bericht.
Während Niccolo sich noch über ihre unverhoffte Gesprächi g keit wunderte, erzählte sie, dass sie als Neugeborenes von ihren Eltern ausgesetzt und von Yaozi, dem Drachenkönig des Südens, gefunden worden sei. Sie hatte ihr ganzes Leben unter Drachen verbracht, behauptete sie stolz, ein Mitglied von Yaozis Clan – bis die Drachen in einer Nacht vor zehn Monden spurlos verschwunden waren.
» Einfach so? «, fragte Niccolo, der noch nicht entschieden hatte, ob er ihr glauben oder sie für eine Verrückte halten sollte.
Sie nickte und wich seinem Blick aus. Im ersten Moment nahm er an, sie täte das, weil sie fürchtete, er könne sie durc h schauen. Aber dann entdeckte er Tränen in ihren Augen, nur ein ganz kurzes Aufblitzen, bevor sie unwillig mit dem Handballen darüberwischte und ihren üblichen verbissenen Ausdruck aufsetzte.
» Und nun bist du auf der Suche nach ihnen? «, fragte er.
» Ja. Und ich werde sie finden. «
» Warum haben sie dich zurückgelassen? «
» Ich weiß es nicht. Sicher nicht freiwillig. « Das klang ein wenig, als müsste sie sich selbst davon überzeugen, aber Niccolo bohrte nicht weiter.
Feiqing hatte die ganze Zeit über geschwiegen, doch nun druckste er mit einem Mal herum und knetete mi t d en Fingern seine zerknitterte Drachenschwanzspitze. » Ich wünschte, ich könnte euch meine Geschichte erzählen. «
» Erinnerst du dich an überhaupt nichts? «, fragte Nugua. Es war das erste Mal, dass sie so etwas wie flüchtiges Interesse an dem Rattendrachen zeigte.
Er schüttelte den Kopf. » Ich sehe noch den Drachenfriedhof vor mir, aber nur ganz verschwommen. Und die goldenen Augen des Wächterdrachen. Dann ist da wieder eine Lücke, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich durch die Wälder gestolpert und den Gauklern in die Hände gefallen bin. «
» Und du hast keine Ahnung, wie du in diesem Kostüm auf den Friedhof gelangt bist? «, fragte Niccolo.
» Nein. Es ist, als wäre alles, was vorher war, ausgelöscht. Wer ich einmal war, wo ich aufgewachsen bin … nichts davon ist noch da. «
» Es muss furchtbar sein, nicht zu wissen, wer man is t «, sagte Nugua nachdenklich.
» Vielleicht finde ich auf dem Drache n friedhof eine Antwort. Außerdem – du kennst deine Eltern doch auch nicht. «
Ihr Blick verdüsterte sich. » Yaozi ist mein Vater! Ich bin die Tochter von Drachen. «
Keiner widersprach ihr.
» Das Seltsame is t «, sagte Feiqing nach einem Moment, » d ass ich so viel anderes noch weiß. Ich weiß, dass das hier China ist. Ich kenne den Namen des Kaisers und weiß einiges über die Mandschu. Ich kann mich erinnern, wie man ein Huhn brät – aber ich weiß nicht mehr, was meine Lieblingsspeise war. « Er schnaufte leise. » Alles, was ir gendwie mit mir selbst zu tun hat, ist fort. Dagegen der Rest … « Er zuckte die breiten Schultern.
» Weißt du, wie alt du bist? «, fragte Niccolo.
» Nei n «, gestand Feiqing.
» Bist du … ein Mann oder ein Junge? «, setzte Nugua nach.
» Nicht mal das weiß ich. «
Niccolo runzelte die Stirn. » Aber, ich meine … fühlst du dich erwachsen? Oder eher wie jemand, der noch jung ist? «
Feiqings Grinsen sah trotz der Breite seines Mauls ein wenig traurig aus. » Ich wette, du fühlst dich erwachsen, obwohl du es noch nicht bist. Tun das nicht alle, die kein kleines Kind mehr sind? Ich habe von Erwachsenen gehört, die sich noch immer wie Kinder fühlen. Und sicher gibt es viele Kinder, die mehr durchgemacht haben als die meisten Erwachsenen. « Er ließ seine Schwanzspitze fallen und zog sie besorgt aus der Reic h weite des Lagerfeuers. » Woher soll ich wissen, ob ich fünfzehn oder
Weitere Kostenlose Bücher