Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
verletzt war.
    Jetzt erst fiel ihm auf, dass die Erschütterungen aufgehört hatten. Der Boden zitterte nicht mehr, das Sturmgetöse des Gegenwinds war verstummt.
    Die Wolkeninsel lag wieder ruhig in der Horizontalen. Der Absturz war abgewendet – zumindest hinausgezögert. Ein ungebremster Aufprall hätte sie in Stücke gesprengt. Der Aether machte die Wolken zwar fest, aber nicht unzerstörbar.
    Niccolo strich den Kühen beruhigend über die bebenden Flanken, dann eilte er zurück ins Freie. Die entflohenen Schwe i ne waren rund um das umgestürzte Flügelkreuz stehen geblieben, als hätten sie sich die Winkel zwischen den geborst e nen Holzstreben als neuen Pferch ausgesucht.
    Niccolos Blick schwenkte von den Tieren hinüber zum Rand.
    Wo vor Minuten noch blauer Himmel gewesen war, erhob sich jetzt etwas Dunkles, Massiges. Eine schrundige Oberfläche, an deren Furchen und Klippen sich die Wolkeninsel verkeilt hatte. Eine Felswand.
    Jenseits der Wolkenberge, auf der anderen Seite der Insel, ragte ebenfalls ein finsterer Umriss empor, höher als die weißen Gipfel, bedrohlich und Ehrfurcht gebietend. Und weiter links – das Gleiche. Die Wolkeninsel musste sich bei ihrem Sinkflug zwischen drei Felsgiganten verkeilt haben und steckte nun wie ein Pfropfen zwischen den Bergen fest.
    Es dauerte drei, vier Atemzüge, ehe Niccolo realisierte, was das bedeutete.
    Der Schmerz seiner Prellungen war vergessen, als er losrannte, der Wolkenkante entgegen, dorthin, wo die weiße Masse auf festes Gestein stieß.
    Eine Felswand. Der Erdboden!
    Sie waren nicht länger Gefangene der Hohen Lüfte!
    Nicht einmal die Zeitwindpriester und der Herzog konnten jetzt noch verhindern, dass jene, die gehen wollten, die Wolke n insel verließen.
    Während er lief, wünschte er sich, sein Vater hätte dies erleben können. Die Rückkehr der Wolkeninsel zur Erde. Die Gelege n heit, auf die Cesare gewartet hatte, um all sein Wissen über fremde Länder, Kulturen und Sprachen zum ersten Mal zu nutzen. Er hatte oft gesagt, er fühle sich wie der beste Koch der Welt, dem man nicht erlaubte, einen Topf auf die Feuerstelle zu stellen.
    Schwarzes, kantiges Gestein nahm jetzt Niccolos gesamtes Sichtfeld ein. Noch nie hatte er einen Berg – einen echten Berg – aus so großer Nähe gesehen. Aus dem lockeren Lauf wurde gehetztes Sprinten, als er sich dem Rand der Wolkeninsel näherte. Die wattige Masse hatte an den zerklüfteten Felsen Spuren hinterlassen, abgeschürftes Weiß, das sich zusehends in faserige Nebelschwaden auflöste, unsichtbar wurde wie schme l zender Schnee. Zugleich hatte die Insel Felsstürze ausgelöst. Geröll und gesplitterte Brocken lagen weit verteilt auf der gesamten Randregion.
    Niccolo blieb stehen und streckte zögernd die Hand aus. Seine Fingerspitzen berührten den kalten Fels. Er hatte noch nie Stein angefasst. Auf der Wolkeninsel wurde ausschließlich mit Holz gebaut, das meiste uralt und nicht selten morsch, denn Nac h schub gab es nur, wenn die Geheimen Händler auftauchten. Das letzte Mal aber lag länger zurück als Niccolos Geburt.
    So also fühlt sich ein Berg an, dachte er. Der Boden. Die Zukunft.
    Ganz kurz überlegte er, ob er sich für seine Euphori e h ätte schämen müssen. Der Absturz hatte im Wolkental gewiss schwere Schäden angerichtet. Sicher gab es Verletzte, vielleicht sogar Tote. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass er und seine Tiere unglaubliches Glück gehabt hatten.
    Und trotzdem hatte er kein schlechtes Gewissen. Ganz im Gegenteil, er kochte fast über vor Freude. Sie waren am Boden, zurück auf der Erde. Bald würde jeder gehen können, wohin er wollte. Sie würden – Niccolos Gedankengänge endeten jäh.
    Während er über die Zukunft nachgedacht hatte, war er dem Verlauf von Kante und Felswand gefolgt. Nun hatte er eine Stelle erreicht, an der das Gestein zurückwich. Der Fels, der die Wolkeninsel auf dieser Seite festhielt, endete abrupt. Niccolo konnte über den Rand blicken, an der Steilwand vorbei, hinaus in die Landschaft. Auf die Landschaft hinab.
    Er hatte sich getäuscht. Die Wolkeninsel hatte noch lange nicht den Boden erreicht. Sie steckte zwischen den höchsten Gipfeln eines zerklüfteten Gebirges fest, säulenähnlichen Granittürmen, viel zu steil, um daran hinabzuklettern, ohne sich alle Knochen zu brechen.
    Unter ihnen lagen weitere tausend Meter tödliche Leere.
    * * *
    » Wir sind gekommen, um mit deinem Vater zu sprechen «, sagte der Mann, den Niccolo bis zum

Weitere Kostenlose Bücher