Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Dann wirst du verstehe n «, fuhr Tieguai fort, » d ass seine Mittel nicht zwangsläufig die meinen sind. «
» Ihr könnt Mondkind nicht allein durch Räucherwerk und Meditation besiege n «, erwiderte Niccolo vorschnell und schämte sich sofort dafür. » Tut mir leid. «
» Nicht durch Räucherwer k «, stimmte der Xian ihm zu . » Aber Meditation versetzt Berge. Buchstäblich. «
Niccolo schaute in seine Brühe, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Tieguai hatte wahrscheinlich Jahrhunde r te mutterseelenallein hier oben verbracht.
» Du bist kein Chines e «, sagte Tieguai. » Weißt du überhaupt, was Tao bedeutet? Anders als deine Schrift bezeichnet unsere keine Töne, sondern Gegenstände und Bilder. Chinesische Zeichen sind keine Laute, sondern Symbole. Das Zeichen des Tao setzt sich aus zwei anderen zusammen, aus den Symbolen für Kopf und für Gehen. Geist und Bewegung verschmelzen im Tao zu einer Einheit. Der Weg, den Laotse beschritten hat und auf dem wir ihm folgen, ist keiner, den man nur mit den Füßen geht. « Tieguai berührte sein Herz und seine Stirn. » Wir müssen ihn auch hiermit gehen. Und zwar in jede Richtung, in die er uns führt. Wenn es die Richtung des Kampfes ist, dann dürfen wir ihn nicht allein mit dem Körper führen, sondern auch mit unserem Geist. «
Niccolo drehte die Suppenschale gedankenverloren zwischen den Fingern. » Li hat ihn vor allem mit seiner Lanze geführt. «
Der Xian lachte. » O ja, das ist der Pfad, den Li für sich g e wählt hat. Meiner ist ein anderer. Laotses Lehre ist voller Möglichke i ten. Kein starres Gebilde aus Gesetzen und Regeln, sondern ein Gewebe von unendlicher Vielfalt. «
» Aber Ihr und die anderen Xian, ihr sprecht mit den Göttern. Geben sie euch keine Befehle? «
» Wir Xian sind ihre Botschafter, das ist wahr. Wir sind die Säulen, auf denen das Gewölbe des Himmels ruht.
Aber sag mir, würdest du einer Säule einen Befehl erteilen? Muss man einer Säule erklären, dass sie ein Dach auf diese oder jene Weise zu tragen hat? Nein, Niccolo. Sie trägt. Das ist alles. Nichts anderes tun wir. «
Niccolo war nicht sicher, ob er von all dem irgendetwas ve r stand, und doch drangen ein paar Gedankensplitter bis zu ihm durch. Vielleicht lag das an den Schwaden, die das Innere der Hütte vernebelten. Vieles schien mit einem Mal einen Sinn zu ergeben, das zuvor noch schwer zu durchschauen gewesen war.
» Tao ist ein Auge, das sieh t «, sagte Tieguai. » Jeder Mensch und jedes Ding trägt es in sich. Doch es rührt sich nicht, solange man nicht in sich danach sucht. «
Niccolo hatte Silberdorn neben dem Tisch abgelegt . Nun griff der Xian danach und zog die Klinge langsam aus der Scheide. Er setzte sie mit der Spitze auf den Boden und hielt den Knauf mit einem Finger der linken Hand; mit dem rechten Zeigefinger berührte er die Schneide so sanft wie eine Gitarrensaite. Ein heller, melodischer Ton erklang und vibrierte sekundenlang nach.
» Nimm zum Beispiel dieses Schwer t «, sagte der Unsterbl i che. » Sein Stahl trägt die Macht des Lautes in sich, aber er würde ihn niemals allein von sich geben. Er muss erst angeschlagen werden wie ein Instrument. So ist es mit allen Dingen. Tao ist in diesem Tisch, in deiner Suppenschale, dort drüben im Feuer. « Er beugte sich vor. » Und Tao ist auch in dir, Niccolo. «
** *
Im Gebirge schienen die Tage länger zu dauern, und sie waren erfüllt von so viel Neuem, dass Niccolo jegliches Gefühl für die Zeit verlor.
Frühmorgens im Dunkeln ruderte Tieguai mit ihm hinaus auf den See, und dort sprachen sie miteinander, Stunde um Stunde. Manches, das der Xian sagte, erinnerte Niccolo an seinen Vater. Seit Cesare Spinis Tod war Niccolos Erinnerung an ihn immer blasser geworden, ob er wollte oder nicht; doch etwas in dem, was der Unsterbliche sagte, mehr noch: wie er es sagte, brachte bestimmte Eindrücke und Gefühle zurück, die Niccolo längst verloren geglaubt hatte.
Der Xian zeigte ihm, wie man auf einem Kranich ritt, erst hinter ihm, dann allein. Das Tier kreiste niedrig über dem Wasser, für den Fall, dass Niccolo abrutschte, aber er stellte sich zu seinem eigenen Erstaunen recht geschickt an und stürzte kein einziges Mal.
An den Nachmittagen widmete er sich seinen Übungen mit Silberdorn. Das Schwert schien mit seiner Hand zu verschme l zen, sobald er es aus der Scheide zog. Es führte seine Hiebe und Stiche, lenkte seine Ausfallschritte und Riposten. Er fühlte sich
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