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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zuerst nach Norden, dann in einem weiten Schwenk nach Westen – vorausgesetzt, sie hatte in ihrem Zustand die Sternbilder nicht durcheinandergebracht, und das grelle Licht, das in ihren Augen brannte, war tatsächlich die Sonne und kein Fieberphantom.
    Am Horizont waberte die Luft in weißgelber Glut. Dort musste die wahre Wüste liegen, die tödliche Dürre der Taklamakan. Aber auch die senffarbene Landschaft unter ihr kam dem, was sich Nugua unter einer Wüste vorstellte, schon recht nahe. Eine trockene Einöde, die man zusammengeschoben hatte wie einen Teppich, vielfach gefaltet und gewellt, und von deren Felse n kämmen jemand allen Sand hinab in die Senken geschüttelt hatte. Ja, dachte sie, wir sind auf dem richtigen Weg.
    Bald darauf entdeckte sie die Stadt der Riesen.
    ** *
    Von Weitem ähnelten die Ruinen einem Gletscher aus Stein, der sich als breites Band über ein abschüssiges Felsplateau ergoss, um schließlich über die Kante eines tiefen Abgrunds zu fließen; dabei blieb er an dessen Steilwand haften und verlor sich viel weiter unten im Schatten. Denn die Stadt – oder das, was davon übrig war – war nicht nur horizontal auf dem Plateau errichtet worden, sondern auch senkrecht an einer Seite der Kluft hinab. Ihr Grundriss war lang und, im Vergleich dazu, schmal – wie ein kolossales Winkeleisen, das man über die Kante des Abgrunds gelegt hatte.
    Wie groß das Ruinenfeld tatsächlich war, konnte Nugua nicht einmal schätzen. Zwanzig, dreißig Kilometer lang auf dem Plateau; wie weit es in den Abgrund reichte, war nicht zu erkennen. Die Kluft musste bodenlos sein, denn der Kranich folgte seit geraumer Zeit ihrem geschlängelten Verlauf, und nicht ein einziges Mal hatte Nugua den Grund ausmachen können. Das Ocker der Felswände wurde weiter unten zu dunklem Braun, dann zu undurchdringlichem Schwarz.
    Die titanischen Bauten aus Steinquadern, die an der Steilwand hinauf und oberhalb davon über das weite Plateau wucherten, waren unfassbar groß. Dabei handelte es sich eindeutig um Ruinen, die früher noch höher gewesen waren, achthundert oder tausend Meter. Heute besaß keine mehr ein Dach, und auch die meisten Mauern waren vor langer Zeit eingestürzt. Doch selbst jene Teile, die noch aufrecht standen und die ehemaligen Ausmaße erahnen ließen, kamen an Höhe den Gipfeln des Vorgebirges gleich.
    Schon aus der Ferne waren die Ruinen deutlich zu sehen gewesen, eine verwinkelte, seltsam geometrische Bergkette am Horizont. Anfangs hatte Nugua ihre Form für eine Täuschung gehalten, ein Trugbild der gleißenden Sonne, die Boden und Himmel in feurigem Wabern verschmelzen ließ. Nun aber wusste sie es besser.
    Die Drachen hatten ihr von den Riesen erzählt. Einst hatten ihre gewaltigen Körper den Himmel verdunkelt, kaum einer kleiner als zweihundertfünfzig Meter. Das war, dachte sie jetzt erschüttert, mehr als hundertfünfzigmal so hoch wie sie selbst! Ein Riese würde sie überragen wie ein Mensch eine Ameise – und sie zertreten, ohne es überhaupt zu bemerken.
    Aber es gab keine Riesen mehr, sie waren vor langer Zeit verschwunden. Es hieß, als die Götter noch in Fleisch und Blut durch die alten Reiche der Menschen gewandelt waren, da hatten sich auch die Riesen dann und wann in ihrer vollen Größe gezeigt. Die meiste Zeit aber verbargen sie sich als Teil der Landschaft, wenn sie Menschen in ihrer Nähe witterten. Wer vor einem liegenden oder sitzenden Riesen stand, der nahm ihn selten als lebendes Wesen wahr, eher als bizarr geformten Berg oder als Felsformation.
    Die Drachen hatten nie erwähnt, dass die Riesen eigene Städte erbaut hatten. Und doch gab es beim Anblick der Ruinen keinen Zweifel. Niccolo hatte Nugua von der Kette aus Quadern erzählt, auf denen Wisperwind und er einen Fluss unten im Süden überquert hatten – die Kriegerin hatte das eine uralte Brücke der Riesen genannt. Di e T rümmerstadt war ebenfalls aus behauenen Blöcken erbaut, manche zehn oder zwanzig, andere fast hundert Meter hoch.
    Der Kranich musste jetzt seit einer Ewigkeit ohne Pause geflogen sein, und es war kaum mehr zu übersehen, dass er schwächer wurde. Sie beschloss, auf einer der höchsten Ruinen zu landen. Dort kam niemand an sie heran, keine Nomaden oder Räuber, die sich weiter unten in den Steinschluchten der Riesenstadt verbergen mochten.
    Sie redete mit heiserer Stimme auf den Vogel ein und erklärte ihm, was sie vorhatte. Diesmal antwortete er mit einem Kräc h zen und schien sie tatsächlich

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