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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu verstehen, denn er änderte seinen Kurs und flog jetzt auf einen der steinernen Kolosse zu. Früher einmal mochte dies die Wand eines Gebäudes gewesen sein; heute war es nur noch ein turmartiges Trümmerstück, mindestens zweihundert Meter hoch, aufgeschichtet aus Qu a dern, die der sandige Wind an den Kanten rund geschmirgelt hatte.
    Die Oberfläche des höchsten Felsklotzes mochte fünfzig mal fünfzig Schritt betragen. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die raue Plattform herab, und als der Kranich sich darauf niederließ, wuselten unter ihm winzige Eidechsen auseinander, die sich in der Hitze ausgestreckt hatten. Es schien unzählige dieser fingerlangen Tiere auf der Quaderfläche zu geben. Sie erinnerten Nugua an die verschwundenen Drachen, winzig kleine Verwandte von Yaozi und seinen Brüdern und Schwe s tern. Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Gesellschaft vermisste.
    Mit zitternden Fingern löste sie ihre Fesseln und rutschte vom Rücken des Kranichs zu Boden. Die Steinfläche war heiß, aber nicht so sehr, dass sie sich daran hätte verbrennen können. Aus ihrem Bündel zog sie einen halb vollen Wasserschlauch und trank hastig daraus. Der Kranich hatte seinen Durst dann und wann an Tümpeln und Flüssen gelöscht, aber das letzte Mal lag lange zurück. Trotzdem scheiterte ihr Versuch, ihm Wasser aus dem Schlauch einzuflößen. Irritiert zog er den Schnabel fort, als sie ihm mit dem Gefäß zu nahe kam.
    » Du musst trinken «, sagte sie zu ihm. » Wir kommen bald in die Wüste, und dort wird es noch schwieriger werden, Wasser zu finden. «
    Der Kranich reagierte nicht darauf, schob sich zu einer Kugel zusammen und steckte den Schnabel unter einen Flügel. Augenblicklich schlief er ein, und Nugua behelligte ihn nicht weiter. Das Tier war schlau genug, um selbst zu wissen, wann es Flüssigkeit nötig hatte.
    Bald schlief sie ebenfalls, den Kopf an das weiche Gefieder gelehnt. Sie träumte schlecht, aber als sie erwachte, konnte sie sich an keine Einzelheiten erinnern.
    Es war tiefe Nacht geworden. Über ihr wölbte sich ein kri s tallklarer Sternenhimmel. Keine Wolken weit und breit, nicht einmal Dunst. Ein heller Mond übergoss die Ruinenstadt mit weißem Schimmer.
    Der Kranich rührte sich im Schlaf, öffnete aber kein Auge. Nuguas Herzrasen überschlug sich fast. Sie wagte noch immer nicht, ihr Wams zu heben, um nachzusehen, wie weit sich der todbringende Handabdruck zur Faus t g eballt hatte. Sie wollte gar nicht wissen, wie viele Tage ihr noch blieben, und sie hatte aufgehört, die verstrichenen zu zählen.
    Mühsam rappelte sie sich auf, spürte den kühlen Höhenwinden nach und kam zu dem Schluss, dass sie nicht stark genug waren, um ihr hier oben gefährlich zu werden. Sie konnte sich ohne weiteres näher an eine der Quaderkanten wagen und einen Blick in die Tiefe riskieren.
    Die Ruine, auf der sie sich befand, war keineswegs die höch s te, aber sie überragte einen genügend großen Teil der Stadt, um einen beeindruckenden Ausblick zu gewähren. Von hier aus schien es, als würde sich der Irrgarten aus tiefen Schluchten und Schwindel erregenden Trümmerpyramiden in allen Richtungen bis zum Horizont erstrecken. Irgendwo dort drüben, viele Kilometer weiter im Westen, begann die Taklamakan, und dahinter, noch unsichtbar in der Ferne, lagen die Himmelsberge. Nugua hatte nur noch wenig Hoffnung, dass sie es rechtzeitig bis dorthin schaffen würden, aber sie wollte den Kranich nicht wecken und zur Eile treiben. Nach dem tagelangen Flug brauchte er die Ruhe so dringend wie sie selbst.
    Die Ruinenstadt lag leblos da. Nirgends sah sie Feuer in der Tiefe. Vielleicht wagten sich die Nomadenstämme nicht in die Nähe der uralten Monumente. Aber selbst von hier oben konnte Nugua nur einen Bruchteil der gesamten Trümmerausdehnung überblicken, und schon hinter dem nächsten Quaderturm, dem nächsten Mauergebirge mochten Räuberhorden ihren Unte r schlupf eingerichtet haben.
    Als sie sich umdrehte, hatte sich der Kranich lautlos aufgeric h tet. Er streckte den Hals und bog das Haupt nach hinten, um seine steife Muskulatur zu lockern.
    » Genug geschlafen? «, fragte sie, als sie mit schleppenden Schritten zu ihm zurückkehrte. Sein Gefieder war gesträubt. Er schaute in die Ferne, zurück nach Osten, woher sie gekommen waren.
    » Hast du etwas gewittert? « Sie folgte seinem Blick, sah aber nur Schwärze zwischen den Sternen. » Vielleicht sollten wir wirklich weiterfliegen. Aber erst müssen

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