Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
stimmte.
Da war Licht, eine vage, unbestimmte Helligkeit ohne sichtb a re Quelle.
Und Formen.
Alles deutete darauf hin, dass sich unter ihr der Boden des Abgrunds befand. In unirdischem Schimmer sah sie Erhebungen in den Tiefen der Schlucht, durchzogen von engen, verwinkelten Schneisen.
Sie hielt weiter Ausschau nach dem Ursprung der silbrigbla u en Helligkeit und entdeckte schließlich, dass sie nicht vom Boden ausging, sondern von den Wänden der Schlucht. Sie versuchte, sich zu orientieren, war aber mit einem Mal nicht mehr sicher, wo Norden und wo Süden war. Der Kranich flog noch immer seine weit ausholenden Kreise, und sie erkannte erst bei einem Blick nach oben, welche die Stadtseite der Kluft war. Verzahnt und klobig ließen sich die Silhouetten der Ruinen erahnen. Sie streckten sich an der Felswand dem Nachthimmel entgegen, und nun sah sie auch, dass die Bauten bis hierher, zum tiefsten Punkt des Abgrunds, reichten. Der unheimliche Lich t schimmer ging von wolkigen Flächen aus, die an den Quadern, aber auch am natürlichen Fels emporgewuchert waren. Eine Art Schimmelpilz, wahrscheinlich. Sie hatte Ähnliches schon in den Höhlen beobachtet , in denen der Drachenclan gelegentlich Unterschlupf gesucht hatte, oder auch in hohlen, vermoderten Baumstämmen. Die Pilzkissen am Fels nahmen gewaltige Flächen ein, unfassbar groß wie alles in der Stadt der Riesen . Zugleich waren sie ein Anzeichen für Feuchtigkeit und damit für Wasser; seine Witterung hatte den Kranich also nicht getrogen.
» Na gut «, sagte sie zittrig, als der Vogel allmählich langsamer wurde und sie über den verschlungenen Felswällen am Boden des Abgrunds kreisten, » such dir dein Wasser, und dann verschwinden wir von hier. «
Der Kranich brach aus seiner Kreisbahn aus und flog nun etwa zwanzig Meter über den höchsten Kuppen des Bodens nach Osten. Der Schimmelglanz war nahe der Felswand und den unteren Ruinen heller als in der Mitte der Schlucht. Die gegen - ü berliegende Seite ließ sich als Hauch von Helligkeit erahnen, aber dazwischen lag ein breiter Streifen Finsternis. Nur die Umrisse der Hügellandschaft am Grund der Kluft hoben sich vage davon ab.
Ein helles Krächzen drang aus dem Schnabel des Kranichs, während er dem Verlauf der Schlucht in östliche Richtung folgte. Das Echo hallte von den Felsen wider und schien den beiden zu folgen wie eine Spur, die nicht zu sehen, wohl aber deutlich zu hören war. Falls es hier unten Leben gab – und davor mochten die Götter sie bewahren! –, musste es spätestens jetzt auf die Eindringlinge aufmerksam werden.
» Sei still! «, zischte sie dem Vogel zu.
Er ging jetzt tiefer, tauchte in den engen Spalt zwische n z wei wallförmigen Verwerfungen am Boden. Ganz vage erkannte Nugua im Schimmelglanz einen Wasserlauf . Gut, dachte sie, umso schneller sind wir wieder von hier fort.
D er Kranich landete, machte einen letzten gestelzten Hüpfer und senkte den Schnabel in den Bach. Das Gewässer gluckste leise, während es sich seinen verschlungenen Weg durch das Halblicht suchte. Es war nicht breiter als drei Schritt. Kurz dahinter stieg die nächste Erhebung an. N ach einigem Zögern sprang Nugua vom Rücken des Vogels und entkorkte die beiden Lederschlä u che aus ihrem Bündel. Sie ging in die Hocke und tauchte die Gefäße ins Wasser. Es war noch viel kälter, als sie erwartet hatte, und sie fragte sich, ob selbst bei Tag die Sonnenstrahlen bis in diese Tiefe reichten. Auch der Boden war eisig.
Der Vogel trank noch immer. Möglich, dass er in der Lage war, Wasser zu speichern, so wie das die Drachen konnten oder die Kamele der Nomaden.
Die Schläuche füllten sich durch die enge Öffnung nur lan g sam. Schon kroch die Kälte des Felsbodens durch Nuguas Füße an ihren Knochen hinauf. Ihr Herz hämmerte unvermindert, und ihr Magen zog sich zusammen. Ihre Hände bebten, und ihr wurde wieder schwindelig. Bitte nicht gerade jetzt!, flehte sie im Stillen. Sie durfte jetzt nicht bewusstlos werden, nicht hier unten!
Sie riss den Kopf hoch, als sich etwas bewegte. Rechts von ihr! Ihre zitternden Finger verloren fast den eine n W asse r schlauch. Sie bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor die Strömung ihn davontragen konnte, schaute dabei aber weiter nach rechts ins Dunkel.
Nichts zu erkennen. Der Wasserlauf machte dort eine Biegung und verschwand hinter einem Wall aus Finsternis. Der Schi m mel an den Wänden des Abgrunds glühte nicht bis hierher. Das wenige Licht, das die Senke
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