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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wir Wasser für dich finden, wenn du schon nicht aus dem Schlauch trinken willst. «
    Er legte sich wieder ab, eine Aufforderung aufzusteigen . Selbst dabei wirkte er noch angespannt. Nugua hatte kaum Platz genommen und nach den Zügeln gegriffen, da spreizte er schon die Schwingen und hob ab.
    Mit rauschenden Schlägen trug er sie über die Kante des Quaders. Unter ihr gähnte jetzt die mondweiß gesprenkelte Dunkelheit der tieferen Ruinen, ein Labyrinth aus kantiger Schattengeometrie.
    Der Kranich flog nicht schnurgerade nach Westen, was sie vermuten ließ, dass er sich tatsächlich auf die Suche nach Wasser machte. Er war klüger als ein gewöhnlicher Vogel, und dennoch musste ihm die Weitsicht fehlen, dass vor ihnen die Wüste lag. Wahrscheinlich hatte er Durst und folgte einfach seinem Instinkt.
    Die bodenlose Kluft, der sie stundenlang gefolgt waren, b e fand sich südlich von ihnen, und genau dort flog der Kranich jetzt hin. Er musste einige der höheren Ruine n u mrunden, tat das aber in so sanften Kurven, dass Nugua niemals in Gefahr geriet, von seinem Rücken zu rutschen . Sie hatte sich vor ihrem Aufbruch nicht festgebunden, und selbst darauf nahm das Tier nun Rücksicht.
    Im Süden erhoben sich die Berggiganten des Himalaya, maje s tätische Silhouetten vor dem Nachthimmel. Doch davor, so als hätte jemand ein Stück von der Welt einfach ausradiert, lag der tiefschwarze Abgrund. Ein grässliches Nichts tat sich erst vor, dann unter dem Kranich auf, als die waagerechte Ausdehnung der Riesenstadt endete und sich an der Felswand der Kluft senkrecht in die Tiefe fortsetzte. Die aufragenden Ruinen standen hier viel gedrängter, vermutlich auf treppenartigen Absätzen, aber das war bei Nacht – und womöglich auch am Tage – nicht zu erkennen.
    » Du willst doch nicht da runter? «, keuchte Nugua in den Gegenwind.
    Der Vogel ging in einen Gleitflug über, die Schwingen weit ausgebreitet. Statt steil in die Tiefe vorzustoßen, begann er zu kreisen – auf einer sanft geneigten Bahn, die sich hinab in die Schwärze schraubte.
    » He! Nicht in die Schlucht! Wir finden auch anderswo Wa s ser! «
    Aber der Kranich wich nicht von seinem eingeschlagenen Kurs ab, folgte jetzt stur seiner Witterung.
    » Hörst du? « Sie zerrte an den Zügeln. » Nicht dort hinunter! «
    Der Gegenwind kam jetzt nicht nur von vorn, sondern auch von unten. Sie sanken noch schneller.
    Nugua fror. Sie hatte sich beinahe an ihren hämmernden Herzschlag gewöhnt, aber jetzt war ihr, als pulsierte das Blut sogar in ihrem Schädel so heftig, dass er zu platzen drohte. Angst schnürte ihr den Atem ab, als sie unter sich nur noch schwarze Leere erblickte, wie ein Spiegelbild der Nacht, aus der jemand alle Sterne gestohlen hatte.
    Hoch über ihr waren der Himmel und – noch weiter oben, unsichtbar – der Aether.
    Unter ihr aber war nichts.
    Nur Finsternis. Furcht. Und das geisterhafte Echo ihres Her z schlags.
     
    DAS ERWACHEN DER SCHLäFER
     
    Z u Beginn ihres Abstiegs in die Tiefe waren da noch die aufstrebenden Ruinen der Riesenstadt gewesen, an die Wand der Kluft geheftet wie Korallen an ein Riff. Bald aber krochen die Schatten daran empor, verschlangen schließlich auch den letzten steinernen Dom, das letzte Trümmergerippe.
    Darunter war nur noch Schwärze.
    Wie tief sie vorgestoßen waren, vermochte Nugua nicht zu sagen. Ihre Gänsehaut war jetzt nicht mehr nur eine Folge ihrer Angst. Es war kalt hier unten, und es wurde immer kälter. In der absoluten Finsternis ließ sich nicht mehr feststellen, wie schnell sie sanken, aber sie spürte, dass der Kranich noch immer Runde um Runde zog, eine weite, nicht enden wollende Spirale.
    Sie versuchte weiterhin, ihn zur Umkehr zu bringen, aber er hörte nicht auf sie. Zuletzt nahm ihre Furcht derart überhand, dass sie nur noch flüsterte und ihre Worte mit dem Gegenwind davonwehten. Die Schwärze des Abgrunds war vollkommen. Nur wenn sie nach oben sah, erkannte sie die Felskanten, ein Band aus Nacht und Sternenhimmel, das sich über ihr drehte und dabei immer schmaler wurde. Die Schlucht war ungeheuer breit, mehr al s tausend Schritt, und dass ihre Ränder nun zu eine m S palt in der Dunkelheit geschrumpft waren, diente als einziger Anhaltspunkt für ihre tatsächliche Tiefe.
    Als sie mit einem Mal einen Lichtschimmer ausmachte, schien ihr Flug in den Abgrund bereits ewig zu dauern . Sie glaubte erst, ihre Augen hätten sich an die Finsternis gewöhnt, doch bald erkannte sie, dass das nicht

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