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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ruck stemmte sich der Spürer gegen die Lederbänder, die ihn an den Hochstuhl fesselten.
    Ein Flüstern lief durch die Reihen der Steuerleute. Feiqing versuchte, in ihren Mienen zu lesen, aber die Eulenaugen wirkten nur unverändert bedrohlich.
    Der Spürer warf sich erneut in seine Fesseln. Sein Kopf ruckte nach vorn. Unter dem Gewebe aus Goldfäden waren weder seine Augen noch andere Teile seines Gesichts zu erkennen. Im letzten Licht der Abendsonne hinter den Bugfenstern aus gelblichem Glas sah es aus, als stünde sein Schädel in Flammen. Lichtreflexe tanzten flirrend an den Fäden empor zur Decke.
    Unter den Soldaten brach Unruhe aus. Einer der Steuerleute löste sich von seinem Platz an den Apparaturen und eilte zur Tür des Navigationsraums. Der Soldat, der von Kangan gescholten worden war, vertrat ihm den Weg. » Keine Störungen «, befahl er knapp.
    Der Steuermann begann einen wortreichen Streit. Feiqing aber konnte seinen Blick nicht von dem Spürer lösen . Das Flirren des Goldes wurde noch heftiger, und allmählich kamen ihm Zweifel, ob es sich dabei tatsächlich um Spiegelungen der letzten Sonnenstrahlen handelte.
    Der Spürer begann zu schreien. Schrill und kreischend.
    Mit einer Kraft, die man seinem ausgezehrten Leib nicht ansah, stemmte er sich gegen die Fesseln und schüttelte den Kopf immer aufgebrachter und wilder, bis die ersten Goldfäden zerrissen.
    Zwei Steuerleute versuchten, ihn festzuhalten. Der Mann, der noch immer mit dem Soldaten vor der Tür stritt, brüllte empört auf sein Gegenüber ein. Endlich gab der Wächter nach und gewährte ihm Zutritt zum Inneren des Navigationsraums.
    Die Tür wurde aufgerissen, noch bevor der Steuermann an - k lopfen konnte. Gildenmeister Xu erschien kreidebleich im Rahmen, hinter ihm der sichtlich verstörte Hauptmann Kangan und eine besorgt dreinschauende Wisperwind.
    Das Kreischen des Spürers schraubte sich höher. Weitere Goldstränge zersprangen wie überspannte Saiten eines Musiki n struments. Überall pressten sich Männer und Frauen die Hände auf die Ohren. Der Soldat, dem man Jadestachel anvertraut hatte, ließ das Schwert fallen; beim Aufprall pellte sich die Klinge halb aus dem Stoff und blieb schimmernd liegen, die Spitze wie eine Kompassnadel auf den Spürer gerichtet.
    Eine Erschütterung ließ den Boden der Brücke erbeben . Hor n signale erklangen in der Ferne. Gleich an mehreren Stellen der Abendstern wurde Alarm gegeben, als das Schiff ins Schwanken geriet.
    Alle, auch Meister Xu, Kangan und Wisperwind, hielten sich die Ohren zu.
    Nur Feiqing saß da, die Arme auf dem Rücken gefesselt, und war den Schreien schutzlos ausgeliefert.
     
    RUINEN
     
    N ugua starb.
    Der Tod hatte die Gestalt einer pulsierenden Hand angeno m men, ein Umriss von dunklem Purpur, der sich unter ihrer Brust zusammenzog und ihr Herz beständig schneller schlagen ließ – wie ein Trommler während eines Rituals, der am frühen Morgen mit behäbigen Schlägen und langen Pausen begann, um sich am Abend, auf dem Höhepunkt der Zeremonie, zu einem irrwitz i gen Wirbel zu steigern.
    Lange würde ihr Herz das nicht aushalten. Es sandte ihr Sign a le, die von Tag zu Tag verzweifelter wurden. Schwächeanfälle, stechende Schmerzen, kurze Momente der Bewusstlosigkeit.
    Solche Anfälle häuften sich. Sie bemerkte es meist an der veränderten Landschaft, die unter ihr und dem Riesenkranich dahinzog. Im einen Augenblick sah sie einen Ozean aus dürren Kiefern, im nächsten eine Einöde aus weißem Kalkstein. Sichere Anzeichen für eine weitere Ohnmacht.
    Am Tag zuvor hatte sie begonnen, sich selbst auf den Rücken des Vogels zu fesseln. Sie band ihre Füße unter seinem Bauch zusammen; schlang sich ein Seil um die Taille und verknotete es; und sie redete mit dem Vogel , bat ihn, sie aufzufangen, falls sie trotz allem abstürzen sollte. Obwohl sie nicht wusste, ob das Tier sie verstand, war es doch gerade seine Ruhe, seine schei n bare Teilnahmslosigkeit, die ihr Mut machte. Der Kranich gab ihr das Gefühl, dass sie bei ihm gut aufgehoben war.
    Zuletzt hatte sie sich unter Yaozis Obhut so beschützt gefühlt, als jüngstes und kleinstes Mitglied des Drachenclans.
    » Ich will niemals ohne euch sein «, hatte sie zu ihm gesagt.
    » Das musst du nicht «, hatte Yaozi geantwortet.
    Aber Yaozi und sein Clan waren verschwunden. Er hatte ein Leben lang auf sie Acht gegeben, und nun war sie allein. Sie war allein und starb.
    Sie wusste nicht, wie weit es noch war bis zu den Himmel

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