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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erschienen sie ihr nicht unangenehm, sondern befreiend nach der bekle m menden Tiefe.
    Sie warf einen letzten Blick in die Schlucht. Was immer dort unten verborgen lag, war wieder unsichtbar geworden. Hatte sie das götzenhafte Titanengesicht wirklich gesehen, oder war es nur Einbildung gewesen? Und der Luftzug, die Bewegungen? Nein, das alles war real gewesen, sie war ganz sicher. Doch zusammen mit den Ruinen blieb auch die Angst unter ihr zurück, so als hätte Nugua sie zusammen mit den Schatten des Abgrunds abgestreift.
    Sie rasten über die Ausläufer der Riesenstadt hinweg, der offenen Wüste im Westen entgegen, wo die Sterne tief über dem Horizont schwebten. Die Purpurne Hand klammerte sich um Nuguas Herz. Der Schmerz war noch da, das rasend schnelle Pochen, das Pulsieren des magischen Mals. Aber für eine Weile ließ Nugua nichts von all dem an sich herankommen, ergab sich ganz ihrer Erleichterung.
    » In die Himmelsberge «, rief sie dem Kranich zu. » Bring uns so schnell du kannst in die Himmelsberge! «
     

 
     
     
    DER FEIND
     
    A lessia kletterte durch einen Tunnel aus Wolkenmasse ins Freie.
    Die Öffnung, die das gefangene Aetherfragment im Herzen der Wolke für sie geschaffen hatte, war nicht groß, gerade breit genug, dass sie hindurchpasste. Der Tunnel war steil, beinahe zu steil, weil das Fragment zwar gelernt hatte, zu denken wie ein Mensch, sich aber nicht mit Körperlichkeit und Bewegungen auskannte. Alessia war froh, dass der Wolkenschacht nicht senkrecht nach oben führte; wahrscheinlich hätte sie es dann nie bis zur Oberfläche geschafft.
    So aber gelang es ihr schließlich, sich über den Rand der Öffnung zu ziehen. Erschöpft blieb sie ein paar Minuten auf dem Bauch liegen, lang ausgestreckt, kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Hinter ihr schloss sich der Tunnel in der Wolkenmasse mit einem saugenden Laut. Sekunden später war die weiße Oberfläche wieder unversehrt wie eine wattige Schneedecke.
    Alessias Kopf tat weh, als sie ihn hob, um sich zu orientieren. Sie kannte die Umgebung, war tausendmal während ihrer Ausritte hier vorbeigekommen. Sie befand sich auf einem breiten Damm aus erstarrtem Dunst; rechts und links erstreckten sich Äcker aus aufgeschüttetem Erdreich. Der Wolkendamm lag nur wenig höher als die Felder. Er führte nach Norden zu einem der fünf weißen Berge. Südlich von ihr, nicht weit entfernt, erhoben sich die ersten Dächer der Ortschaft. Bis zum Hof ihres Vaters war es nicht weit.
    Während sie noch dalag und nach Atem schnappte, gespen s terten all die neuen Dinge durch ihren Kopf, die sie von der körperlosen Stimme erfahren hatte, noch immer ein aufgeregtes Wirrwarr, das sich erst nach und nach ordnete und schließlich so etwas wie einen Sinn ergab.
    Das goldene Licht im Zentrum der Wolkeninsel hatte ihr erzählt, wie der Aether zu denken gelernt hatte. Nachdem die Pumpen immer mehr Aether aus den Regionen jenseits des Himmels herabgesaugt und im Inneren der Wolkeninsel ko n zentriert hatten, hatte die Nähe zu den Menschen ihn zum Leben erweckt. Oder, nein, gelebt hatte der Aether schon vorher – ihm hatte nur die Fähigkeit gefehlt, die eigene Existenz zu erkennen. Erst durch die Menschen hatte er sich selbst als lebendes Wesen begriffen, hatte von ihnen gelernt zu denken, zu fühlen – und Pläne zu schmieden.
    Denn der Aether, der die gesamte Welt wie eine Schale u m hüllte und größer war als irgendeine andere Wesenheit, war beschämt und gekränkt, dass es die winzigen, bedeutungslosen Menschen waren, durch die er seiner selbst gewahr geworden war. Er war so alt, so groß, so allmächtig – und hatte doch von diesen kleinen Kreaturen lernen müssen, die ihm all die Zeitalter lang überlegen gewesen waren. Zusammen mit seinem Verstand wa r Z orn in ihm gereift, auf die Menschen, auf die ganze Welt mit ihrer Vielfalt an Lebensformen. Ein Teil des konzentrierten, denkenden Aethers im Inneren der Wolke hatte sich daraufhin abgespalten und war durch die Pumpen in sein Reich über dem Himmel zurückgekehrt. Wie eine Krankheit hatte er seine rasende Wut und seine Pläne auf den übrigen Aether dort oben übertragen, hatte ihn angesteckt mit seinem Hass. Die Pumpen waren versiegt, der Weg durch sie nach oben und unten ve r schlossen worden.
    Nur ein kleines Stück des Aethers war zurückgeblieben, das goldglühende, sprechende Fragment im Herzen der Insel, und es hatte weiter dazugelernt – die Angst vor dem Tod, die Furcht vor der

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