Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
dämmerig erhellte, stammte von Pilzkissen am Ufer des Wassers, aber ihr Schein war zu schwach und reichte kaum aus, das andere Ufer des Baches zu erkennen.
Alles in Nugua schrie danach, auf den Rücken des Kranichs zu klettern und von hier zu verschwinden. Aber sie zwang sich, die Schläuche wieder unter die Oberfläche zu tauchen, wenigstens solange der Vogel weitertrank; er senkte dazu den Schnabel immer wieder in den Bach, reckte ihn ruckartig nach oben und ließ das Wasser seine Kehle hinablaufen. Vielleicht war es nur eine seiner abgehackten Bewegungen, die Nugua wahrgeno m men hatte.
Aber er steht links von dir!, flüsterte ihre innere Stimme. Nicht rechts!
Aus dem ersten Wasserschlauch stiegen keine Bläschen mehr auf. Nugua zog ihn hervor und steckte mit den Zähnen den Korken in die Öffnung; er war mit einer Schnur an dem Schlauch befestigt. Das zweite Gefäß hielt sie weiter unter Wasser und wartete ungeduldig darauf, dass es endlich voll war.
Erneut regte sich etwas. Nicht nur rechts von ihr, sondern auch in ihrem Rücken.
Diesmal sprang sie auf und stolperte rückwärts zu m K ranich. Auch er blickte hoch und stieß ein leises, warnendes Gurren aus.
Aber wieder sah sie nur Finsternis und die gerundete Schräge der Erhebung, nicht weit vom Ufer entfernt. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass der Fuß des Hanges in tieferem Schatten lag als seine höher gelegene Fläche, so als wölbe er sich unten auf ganzer Breite nach innen. Möglich, dass dies keine gewachsenen Hügel waren, sondern Trümmerteile, die von oben herabgefallen waren.
Sie verschloss den zweiten Wasserschlauch und schob beide mit fahrigen Bewegungen in ihr Bündel. Es lag neben dem Kranich am Boden, und sie musste sich bücken, um es aufzuh e ben.
Ein lang gezogenes Schleifen und Scharren ließ sie hochfa h ren. Der Boden erzitterte unter ihren Füßen.
» Weg hier! «, raunte sie dem Vogel zu und zog sich auf seinen Rücken. Zweimal griff sie im Dunkeln an den Zügeln vorbei, ehe sie die Lederbänder endlich zu fassen bekam. Der Kranich stieß ein Kreischen aus und spreizte die Schwingen.
» Los! «, brüllte sie ihn an. » Mach schon! «
Seine langen Beine federten kurz, dann schnellte der Vogel in die Luft. Der Wasserlauf blieb unter ihnen zurück . Die scha r renden Laute drangen jetzt aus allen Richtungen, dazu kam Poltern und Fauchen. Als Nugua unter sich blickte, war ihr, als wäre die Senke, durch die sich der Bach schlängelte, enger geworden. So als hätten sich die Erhebungen zu beiden Seiten aufeinander zugeschoben.
Ein Erdbeben!, durchfuhr es sie. Unwillkürlich raste ih r B lick hinauf zum weit entfernten Himmelsspalt. Panisch erwartete sie, dass ihnen von dort Felsbrocken und Trümmer entgegenstür z ten.
Aber dort oben sah alles aus wie zuvor.
Ganz im Gegensatz zu unten.
Der Kranich kreischte wieder. Nugua presste die Beine fest um seine Flanken, als sie sah, was am Grunde der Schlucht vor sich ging. Obwohl der Vogel jetzt schräg nach oben stieg, waren sie noch keine hundert Meter weit gekommen. Ihr fehlte der Überblick, um wirklich sicher sein zu können. Eine Vermutung wallte siedend heiß in ihr auf und mit ihr eine Panik, die sie zuletzt im Angesicht des Seelenschlunds verspürt hatte. Ihn aber hatte sie zumindest sehen können. Die Wesen am Boden der Schlucht dagegen erahnte sie kaum – und doch war sie jetzt ganz sicher, dass sie wirklich waren, keine Einbildung.
Die Erhebungen waren keine Felsen, keine herabgestürzten Trümmer und erst recht keine Verwerfungen.
Es waren Körper – die Arme und Beine von Riesen.
Wie viele dort lagen, konnte sie in der Dunkelheit nicht erke n nen. Der Abgrund mochte voll mit ihnen sein, einem ganzen Volk, hunderten oder tausenden dieser Giganten . Aber im Glosen der Schimmelpilze reichte Nuguas Blick nicht weit genug. Nicht einmal einen einzigen konnte sie in seiner vollen Größe ausm a chen, und dass es mehr als einer war, ließ sich gerade einmal erahnen.
Riesen! Jeder einzelne hundertfünfzig Mal so groß wie sie selbst, wenn er sich aufrichtete – und offenbar war es das, was gerade geschah.
Ein tiefes Grollen ertönte, dann verschoben sich die titan i schen Glieder dort unten erneut, und diesmal war es kein Zucken im Schlaf, kein leichtes Rumoren. Diesmal setzte sich der Riese auf.
Sein Oberkörper wuchs hinter Nugua und dem Kranich empor wie ein Berg, der sich unvermittelt aus der Erde wölbte. Die Luft selbst erzitterte, als sie von tausenden Tonnen
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