Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Körpermasse verdrängt wurde. Der Vogel konnte nicht noch steiler aufste i gen, ohne Nugua abzuwerfen, aber sie trieb ihn trotzdem an, brüllte und schrie, als sie das ungeheuerliche Wesen in ihrem Rücken spürte, ein Turm, der eben noch gelegen hatte und nun plötzlich senkrecht stand. Und das war erst sein Oberkörper! Noch saß der Riese am Boden.
Es musste einen Grund geben, warum diese Wesen hier unten schliefen, in dieser finsteren Schlucht, tausende Meter vom Erdboden und seinen Bewohnern entfernt. Vielleicht versteckten sie sich. Und vielleicht hatten sie lange befürchtet, dass jemand von oben sie entdecken könnte . Womöglich war das Grund genug, den winzigen Flüchtling einzufangen und zu zerque t schen wie eine lästige Fliege.
Nugua warf einen weiteren Blick über die Schulter. Der Riese war nicht länger unter, sondern hinter ihr, das gewaltige Gesicht genau auf ihrer Höhe. Zum ersten Mal begriff sie, dass ein Riese nicht einfach nur ein großer Mensch war. Tatsächlich hatte er kaum etwas Menschliches an sich, abgesehen von der Tatsache, dass er Arme und Beine besaß.
Der Schimmelschein am Boden verlor sich in der Tiefe . Der Kranich stieß in dieselben pechschwarzen Regionen vor, die sie bereits bei ihrem Abstieg durchquert hatten . Und so versanken auch die Umrisse des Riesen in einem Ozean aus Dunkelheit. Allein sein Gesicht blieb als vage Ahnung zu erkennen, fünfzig oder hundert Meter hinter ihnen. Es war eine Fratze wie aus Fels gehauen, so grob und kantig wie ein uraltes Götzenbild, und die Haut, die sie überspannte, hätte ebenso gut schwarzer Schiefer sein können. Es gab keine Lippen, nur einen breiten Spalt, der leicht offen stand und aus dem das Rasseln und Fauchen aufstieg wie aus einem erwachenden Vulkan. Und da waren auch Augen, tiefschwarze Ovale wie finstere Grotten. Die Stirn wölbte sich vor, weit über die flache Nase hinweg, und sie erschien viel zu niedrig für einen Schädel dieser Größe.
Jeden Augenblick rechnete Nugua damit, dass eine titanische Hand von unten nach ihr greifen würde. Einmal meinte sie einen heftigen Luftzug zu spüren, nicht den Gegenwind, sondern eine Bewegung seitlich von ihr, und sie fragte sich, ob da gerade ein hundert Meter langer Arm nach ihr geschlagen und sie knapp verfehlt hatte. Vielleicht war es gut, dass sie nichts sehen konnte. Sonst hätte der Irrsinn sie wahrscheinlich eingeholt, bevor der Riese es tun konnte, und sie auf dem Vogel erstarren oder abrutschen lassen.
So aber stiegen sie höher und höher, bis auch das Gesicht im Dunkeln zurückblieb. Der Riese hatte gesessen, überlegte Nugua erneut. Was, wenn er sich erst zu volle r G röße aufrichtete? Und vermochte er das schneller zu tun, als der Kranich vor ihm davonfliegen konnte? Sie waren noch nicht außer Gefahr.
Auch aus anderen Richtungen erklang jetzt das tiefe Dröhnen und Knurren. Die Chance, dass es sich um Echos handelte, erschien Nugua zu gering, um sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Weitere Riesen waren erwacht, und überall um sie in der Schwärze war jetzt Bewegung, eher spür- als sichtbar.
Der Flug zog sich endlos. Obwohl der Kranich jetzt in gerader Linie aufstieg, kam es Nugua vor, als wären sie beim Sinkflug in die Tiefe viel schneller gewesen.
Endlich erkannte sie schräg über sich die ersten Oberflächen von bleichen Ruinen, senkrecht an der Felswand aufgetürmt. Der Kranich näherte sich dem oberen Teil der Schlucht, der vom Mond und den Sternen blass erleuchtet wurde. Die Reichweite der Riesen hatten sie damit hinter sich gelassen. Aber folgten ihnen die Giganten durch das Stufenlabyrinth ihrer Ruinenstadt? Nugua strengte sich an, um etwas zu erkennen, aber sie konnte nur die kilometerbreiten Bauten ausmachen, kein Anzeichen von Leben in den Schatten dazwischen.
Obwohl noch immer tiefe Nacht herrschte, war es hier oben merklich wärmer als unten im Abgrund. Ein Jubelschrei drängte ihre Kehle herauf, als sich das Panorama der Sterne öffnete. Der Himmel war mit einem Mal wieder endlos, nicht nur ein schmaler Spalt über ihr im Finsteren. Die Landschaft dehnte sich in alle Richtungen, und die Weite erfüllte sie schlagartig mit einer Ehrfurcht , als hätte sie Jahre in einem unterirdischen Kerker verbracht.
Selbst der Kranich stieß ein freudiges Krächzen aus, als er die Felskante hinter sich ließ, an den Ruinen hinaufschoss und bald schon darüberschwebte. Die Höhenwinde fuhren in Nuguas Kleider und das Gefieder des Vogels, aber diesmal
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