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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vergänglichkeit. Während der Aether über dem Himmel die Vernichtung der Welt plante, hatte das gefangene Fragment in der Wolke erkannt, was Sterben bedeutete. Wenn die Welt unterging, dann würde es mit ihr vernichtet werden. Schon jetzt stand es kurz vor dem endgültigen Erlöschen; noch hielt es die Wolkeninsel beisammen, aber es war zu schwach, sie erneut in den Himmel aufsteigen zu lassen. Falls der Aether nicht wieder fließen würde, falls der Kreislauf durch die Pumpen nicht wiederhergestellt würde, dann mussten das Fragment und die Insel gemeinsam sterben.
    Es hatte Alessia den Weg zurück zur Oberfläche ermöglicht, nicht weil es sich von ihr seine Rettung erhoffte, sondern weil es Mitleid empfunden und ihre Verzweiflung in der Gefange n schaft nachgefühlt hatte. Das Aetherfragment war selbst ein Gefangener. Nur deshalb war sie jetzt wieder hier draußen, atmete kühle frische Luft ein, spür te den Wind auf ihrer Haut – und die Erschütterungen, die die Wolkeninsel erbeben ließen.
    Ihr Atem hatte sich noch immer nicht beruhigt, als sie sich herumrollte und zum Himmel hinaufblickte. Es musste gegen Mittag sein, die Sonne stand hoch über ihr und brannte nach den Tagen ihrer Kerkerhaft schmerzhaft auf ihr Gesicht herab.
    Sie musste sich jetzt zusammenreißen, musste sich schnell auf den Weg machen. Irgendwo auf der Wolkeninsel trieb der Schattendeuter im Auftrag des Aethers sein verräterisches Spiel. Sein Einfluss auf den Herzog war groß, und sein Wort wog schwer im Rat. Doch welches Ziel verfolgte er – und auf welche Weise wollte er es erreichen? Warum war die Insel so wichtig für die Pläne seines Meisters? Weshalb schenkte der Aether ihr solche Beachtung, wenn es ihm doch letztlich um die ganze Welt ging?
    Das Fragment!, dachte sie. Natürlich. Die Anwesenheit des Aetherfragments war das Einzige, was die Wolkeninsel von irgendeinem anderen Ort der Erde unterschied . Die einzige direkte Verbindung! Falls der Aether tatsächlich eine rasche Vernichtung der Wolkeninsel anstrebte, dann nur, weil hier sein Verstand geboren worden war – und weil ein Teil dieses Verstandes noch immer hier gefangen war und womöglich doch einen Weg kannte, die Zerstörung der Welt zu vereiteln.
    Nichts als Spekulationen, dachte sie verwirrt. Erst einmal galt es, den Schattendeuter aufzuhalten. Oddantonio Carpi durfte nicht weiter ungehindert seine Ränke schmieden und den Untergang des Wolkenvolks beschleunigen. Sie wusste nicht, warum Carpi dem Aether diente – sie hatte ihn stets für einen loyalen, wenn auch eigenbrötlerischen Mann gehalten –, aber im Augenblick spielte das keine Rolle.
    Mit einem Stöhnen erhob sie sich. Sie taumelte. Ihr wurde bewusst, wie hungrig sie war. Als eine neuerliche Erschütterung das Eiland vibrieren ließ, sah sie der Reihe nach zu den drei Felsgipfeln, die die abgestürzte Wolkeninsel festhielten. Entsetzt wurde ihr klar, dass sie noch tiefer gesunken waren. Die Ränder lösten sich immer weiter auf, und je kleiner die Insel wurde, desto schneller rutschte sie zwischen den drei Bergen in die Tiefe. Die Baumgrenze musste längst erreicht sein, und dort lauerten die vierarmigen Kreaturen aus Holz und Wurzelwerk, die sie bei ihrem heimlichen Abstieg entdeckt hatte.
    Schwankend setzte sie sich in Bewegung. So schnell sie konnte lief sie auf die kleine Ortschaft im Zentrum der Insel zu. Die hölzernen Dachgiebel wuchsen über den Wolkenhügeln empor, und bald sah sie zu ihrer Erleichterung die ersten Menschen zwischen den niedrigen Häusern. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte sie befürchtet, sie käme zu spät und die Heimat des Wolkenvolks sei bereits von den Dämonen übe r rannt worden. Aber alle Verwüstungen, die sie entdeckte, stammten noch vom Absturz der Insel aus den Hohen Lüften.
    Eine Frau bemerkte sie und gestikulierte wild. Andere scha u ten sich nach ihr um und hoben die Arme zum Gruß. Jemand stieß einen Jubelruf aus.
    » Signorina Alessia! «, rief ein alter Mann, der sich auf eine Krücke stützte. » Ihr seid wieder da! Es hieß, die Teufel des Erdbodens hätten Euch in die Tiefe verschleppt! «
    Sie zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf, während sie an dem Mann vorüberlief. Zum Erdboden ve r schleppt! Das klang ganz nach etwas, das sich die Zeitwindpriester ausgedacht hatten. Wahrscheinlich hatte man im Rat vermutet, dass sie ein zweites Mal freiwillig den Berg hinabgeklettert war. Weil solch ein Frevel nicht bekannt werden durfte,

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