Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
erst recht nicht, wenn ihn die Herzogstochter begangen hatte, war daraus eine Entführung gegen ihren Willen gemacht geworden. Ihr Vater musste dem zugestimmt haben. Tränen der Wut und Enttäuschung stiegen ihr in die Augen. Konnte er nicht ein Mal Rückgrat beweisen und zu seiner Tochter stehen?
Wie erstaunt die Ratsherren erst sein würden, wenn sie erfu h ren, dass sie tatsächlich entführt worden war. Nicht zum Erdboden und erst recht nicht von ominösen Teufeln, sondern von einem Mann aus ihren eigenen Reihen. Mit grimmiger Freude stellte sie sich das Gesicht des Schattendeuters vor.
Noch immer zittrig in den Knien, geschwächt von Hunger und Durst, lief sie durch das Tor des Herzogshofes . Der quadratische Platz zwischen dem Hauptgebäude und den Stallungen sah unaufgeräumt aus. Heu wehte umher . Zwei Schweine suhlten sich unbeaufsichtigt in einer Pfütze. Wo steckten die Knechte?
Eine Magd entdeckte Alessia und rief etwas. Gesinde blickte aus Türen und Fenstern der Nebengebäude, man che winkten ihr zu. Alessia hob kurz die Hand, grüßte mit gepresstem Lächeln und stürmte ins Haupthaus.
» Signorina Alessia! «, erklang es wieder aus mehreren Ric h tungen, aber sie lief geradewegs zur Tür des Ratssaales, riss sie auf – und stand vor einer verlassenen Tafel, vor leeren Stühlen.
» Wo sind die alle? «, fuhr sie die erstbeste Magd an, die hinter ihr auftauchte.
» Signorina, Ihr solltet erst – «
» Wo ist mein Vater? «
Die Frau wechselte einen Blick mit einer zweiten Magd, und wieder fiel Alessia auf, dass nirgends Knechte zu sehen waren. Selbst die Männer am Ortseingang waren alt und gebrechlich gewesen.
» Was ist hier geschehen? « Sie packte die Magd am Arm und erschrak selbst, als sie spürte, dass ihr Griff kaum mehr als eine lasche Berührung war. Sie war noch immer viel schwächer, als sie wahrhaben wollte. Jetzt schwankte sie auch wieder, alles drehte sich, die Gesichter erschienen ihr verzerrt und hohläugig. Ihr Magen rebellierte vor Hunger, ihr Hals war wie ausgedorrt.
» Signorina ! «, rief die Magd, als Alessia in die Knie sackte und sich mit einer Hand aufstützte, um nicht gänzlich zusammenz u brechen.
» Wo ist … mein Vater? «, wiederholte sie stockend.
» Er ist in den Kampf gezogen, Signorina Alessia. « Die Sti m me der Magd klang jetzt tränenerstickt. » Genau wie alle anderen Männer. Sie haben nur Mistgabeln und Dreschflegel und ein paar Knüppel, und sie – «
Eine ältere Frau schob die Magd beiseite und griff Alessia entschlossen unter die Arme: Lucia, früher ihre Amme, heute guter Geist des Hauses. Mit ihr drängte Dunkelheit auf Alessia ein.
» Sprich zu unserem gnädigen Fräulein nicht von solchen Dingen! «, fuhr die Alte die erste Magd an. » Siehst du nicht, wie sehr sie das beunruhigt? «
Alessia wollte sie fortstoßen, sich aus eigener Kraft auf die Füße stemmen, aber sie sackte nur ein weiteres Mal zusammen, und jetzt fiel sie auf die Seite und hatte das Gefühl, dass Boden und Decke plötzlich ein und dasselbe waren – und von beidem drohte sie in einen Abgrund zu stürzen.
Nicht … einschlafen!
Ganz weit entfernt glaubte sie Schreie und Waffenklirren zu hören, die Laute einer fernen Schlacht. Mistgabeln und Dresc h flegel und Knüppel …
Sie kämpfen, hallte es durch die Leere in ihrem Geist.
Und selbst dort, wo sie jetzt anlangte und endlich zur Ruhe kam, begriff sie, dass niemand mehr den Untergang aufhalten konnte.
* * *
S ie erwachte in ihrem Bett. Draußen vor dem Fensterkreuz und den gelblichen Scheiben war es hell. Jemand hatte sie ausgez o gen und gewaschen. Neben ihrem Lager stand eine Schale mit Suppe, die noch immer dampfte; sie war wohl eben erst dort abgestellt worden.
Die Tür ihres Zimmers war angelehnt, draußen erklangen Stimmen. Lucia stand auf dem Gang und kommandierte die übrigen Frauen herum. Bringt heißes Wasser ! Und auch kaltes! Ein frisches Nachtgewand! Und Obst, das süße Eingemachte, das isst sie besonders gern!
Alessia versuchte, sich aufzusetzen, und war selbst erstaunt, als es gelang. Sie hatte Durst, viel mehr als zuvor, vielleicht, weil ihr Körper jetzt die Ruhe gehabt hatte, sich all dessen bewusst zu werden, was er während der vergangenen Tage vermisst hatte. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie Haare verschluckt. Mit einer Stimme, die eher wie das Krähen eines altersschwachen Hahns klang, rief sie nach Lucia, aber die Dienerin war noch immer viel zu beschäftigt damit, die
Weitere Kostenlose Bücher