Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
unter einem dicht gewebten Teppich. Es gab einen schweren Tisch, an dem schon Generationen von Herzögen gesessen hatten, dazu ein paar Stühle und zwei große Truhen.
Es war offensichtlich, weshalb man die Kreatur ausgerechnet in diesen Raum gebracht hatte: Er besaß einen eigenen Ausgang ins Freie, ein breites Tor in der Rückwand . Es war unauffälliger gewesen, den Kadaver auf diesem Weg ins Haus zu schaffen, statt ihn durch den Haupteingang und die Korridore zu tragen. Aber niemand hatte mit der wachsamen Lucia gerechnet und damit, dass die Neugier der alten Frau größer sein könnte als ihre Furcht vor Strafe.
Alessia drückte die Tür hinter sich zu, bevor der strenge Geruch aus dem Zimmer hinaus auf den Gang wehen konnte. Es war kein Verwesungsgestank, wie sie ihn von toten Tieren kannte; vielmehr roch es nach einer Mischung aus feuchtem Gestein und Erdreich, vermischt mit etwas, das sie vage an Pilze erinnerte.
Man hatte eine Decke auf dem Boden ausgebreitet und das Ding darauf gelegt, nicht weit entfernt von der verborgenen Falltür; eine zweite Decke war darüber gebreitet. Mit Herzklo p fen betrachtete Alessia den Umriss, der sich unter dem dunklen Stoff abzeichnete. Der Körper war nicht größer als ein Mensch – das immerhin unterschied ihn von den Baumdämonen, die sie am Waldrand entdeckt hatte. Eine Ausbuchtung verriet, wo sich der Schädel befand. Alessia näherte sich zögernd diesem Ende des Kadavers, ging in die Hocke und streckte die Hand nach dem Rand der Decke aus.
Noch einmal verharrten ihre Finger in der Luft. Sie wollte die Kreatur sehen, die an den Wolken emporgeklettert war und die Männer angefallen hatte; und zugleic h w ollte sie es nicht. Sie zweifelte nicht, dass das Wesen tot war – der Stoff der Decke hätte sich sonst heben und senken müssen, und es ergab einfach keinen Sinn, dass es tagelang reglos dalag.
Und doch – etwas hielt sie davon ab, die Decke anzuheben und der Kreatur ins Gesicht zu blicken. Sie fragte sich, ob Lucia das wirklich gewagt hatte oder ob es ihr nicht vielmehr gelungen war, aus der Ferne einen Blick auf den Leichnam zu erhaschen. Letzteres, vermutlich. Für eine Dienerin, selbst so eine altg e diente wie Lucia, wäre das Eindringen in das verbotene Zimmer ein unerhörtes Vergehen.
Alessias Finger zitterten noch stärker, als sie einen Zipfel der Decke berührten. Unendlich langsam hob sie den Stoff, erst nur einen winzigen Spaltbreit, dann – tapferer – ein Stück weiter. Eine Woge desselben Geruchs, den sie schon an der Tür wahrgenommen hatte, wallte ihr entgegen, so intensiv, dass nun doch noch Übelkeit in ihr aufstieg.
Das Tageslicht vom Fenster fiel auf einen Streifen grauer Haut. Alessia schloss die Augen, hielt den Atem an – und zog die Decke mit einem Ruck nach oben. Ohne hinzusehen, spürte sie, dass sie den gesamten Stoff fortgerissen hatte, obwohl das gar nicht ihre Absicht gewesen war . Bevor sie die Augen wieder aufschlug, wappnete sie sich für den Anblick des Wesens.
Aber wie hätte sie sich darauf vorbereiten können ? Nichts, rein gar nichts war ihr je unter die Augen gekommen, das es damit hätte aufnehmen können. Nicht an Fremdartigkeit, nicht an Scheußlichkeit.
Wo sie das Gesicht der Kreatur erwartet hatte, saß etwas, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Schneckenhaus hatte, ein spiralförmiger Wulst aus grauem, verhorntem Fleisch. Der breite Strang wuchs statt eines Halses aus den Schultern und war nach vorn hin aufgerollt. Darunter, in dem Winkel zwischen Wulst und Schlüsselbein, also etwa dort, wo bei einem Menschen die Kehle saß, befand sich ein Maul, weit aufgerissen, erstarrt zu einem stummen Schrei. Die Lefzen waren zurückgezogen, die Zähne rechteckig und so groß wie Alessias Daumen. Aus der Mitte des Oberkiefers wölbte sich statt Schneidezähnen ein einzelner schnabelförmiger Hauer nach vorn, groß wie eine Menschenhand, an der Wurzel faustbreit, am Ende nadelspitz, eher ein nach unten gebogenes Horn als ein Fangzahn.
Der Körper selbst wirkte wie der eines untersetzten, dürren Menschen – bis ihr Blick auf seine Unterarme fiel . Sie waren viel breiter als der unterentwickelte Bizeps, fast kugelförmig, und sie endeten nicht in Händen, sondern in einem messerlangen Stachel aus Horn, ebenfalls gebogen und auf ganzer Länge so schartig wie eine uralte Schwertklinge. Auch die Beine der Kreatur endeten nicht in gewöhnlichen Füßen; stattdessen spalteten sich die Waden zu zwei gespreizten
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