Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Knochenspeichen auf, aus denen je ein weiterer langer Dorn wuchs. Auf diesen Hornhaken musste sich das Wesen fortbewegen, vermutlich unterstützt von den Armstacheln; wahrscheinlich lief es auf allen vieren, sodass es auch ohne Standflächen sein Gleichg e wicht halten konnte.
Noch in der Hocke bewegte sich Alessia einen Schritt zurück, packte im Aufstehen die Decke und warf sie zurück über die Kreatur. Ein Bein ragte darunter hervor und ein Teil des fleischigen Schneckenhausschädels . Alessia musste notgedru n gen einmal um das ganze Ding herumgehen, um die Ecken über die entblößten Kadaverteile zu zerren, und sie tat es schnell und ohne nachzudenken. Dann wich sie rückwärts zur Tür zurück, fingerte hinter sich nach der Klinke und schob sich hinaus auf den
L ucia stand an der nächsten Ecke, wo Alessia sie zurückgela s sen hatte, und sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und die Augen weit aufgerissen.
» Lucia? « Alessia wagte erstmals wieder, tief durchzuatmen. Der erdige Steingeruch hing noch immer in ihrer Nase, so als läge er wie ein Ölfilm über ihrem ganzen Körper.
Die Amme stieß einen gellenden Schrei aus.
Alessia wollte gerade auf die alte Frau zustürmen, als ihr bewusst wurde, dass sich der Grund für Lucias Schreikrampf hinter ihr befand.
Am anderen Ende des Flurs.
Sie wirbelte herum, noch während sie eine Ahnung überfiel, warum der Geruch auch hier draußen so durchdringend war. Sie kannte die Antwort, noch bevor ihr Blick auf die beiden Wesen fiel, die rechts und links an den Wänden des Korridors hafteten, keine vier Meter entfernt.
Die Horndornen an Armen und Beinen hatten sie in da s H olz geschlagen und federten unmerklich auf und ab, als spannte und lockerte sich ihre Muskulatur in einem langsamen, lauernden Rhythmus.
Lucias Schrei brach ab.
Die Kreaturen setzten sich in Bewegung.
KAMPF IN DER WOLKE
N och während der Schrei der alten Frau verstummte und die Wesen an den Wänden auf sie zukrabbelten, stieß Alessia erneut die Tür des Zimmers auf und sprang hinein.
» Kommt schon! «, brüllte sie hinaus auf den Gang. » Hier bin ich! « Sie wusste nicht, ob sie die beiden damit tatsächlich von Lucia fortlocken konnte; es war nichts als eine wilde Hoffnung und zugleich, als eine Spur von Klarheit in ihr Denken zurüc k kehrte, der Auslöser lodernder Panik.
Erst erschien das Wesen an der gegenüberliegenden Wand in ihrem Blickfeld, eingefasst vom Rechteck des Türrahmens. Es zögerte und schien in Lucias Richtung zu starren, obwohl Alessia nirgends Augen an dem Schneckenhausschädel entd e cken konnte. Es saß noch immer dort, als die zweite Kreatur im Rahmen erschien und sich in einer fließenden Bewegung um die Kante zog, ohne dabei hinab auf den Boden zu gleiten. Eine Sekunde lang hing es seitlich am knarrenden Türflügel, seine Gelenke federten wieder – dann stieß es sich ab und schnellte quer durch das Zimmer zur linken Wand hinüber. Dort blieb es haften, wartete ab.
Alessia war wie hypnotisiert. Mit Schritten einer Schlafwan d lerin bewegte sie sich rückwärts, bis ihr siedend heiß klar wurde, dass sie jeden Augenblick mit der Ferse gegen den Kadaver am Boden stoßen würde. Ihre Augen blieben starr auf das Wesen gerichtet, das sich jetzt bei ihr im Zimmer befand. Aus dem Augenwinkel sah sie das zweite draußen auf dem Gang, und es schien sich noch immer nicht entschließen zu können, ob es die Amme verfolgen oder mit seinem Artgenossen Alessia angreifen wollte.
Die Kreatur im Raum kippte den grotesken Schneckenhau s schädel zurück in den Nacken und riss das Maul mit dem Schnabelzahn weit auf. Eine Kette von Lauten drang aus seiner Kehle, leise und heiser, eher ein Keuchen als ein Flüstern. Für das zweite Wesen aber gab das den Ausschlag, denn es stieß sich jetzt von der Korridorwand ab und sprang durch die Tür ins Zimmer, geradewegs auf Alessia zu.
Mit einem panischen Aufschrei schnellte sie zur Seite und zugleich nach hinten, vorbei an dem Leichnam unter der Wolldecke, prallte schmerzhaft gegen die Tischkante und schwang sich mit einem Satz darüber hinweg, bis sich das Möbelstück zwischen ihr und den beiden Kreaturen befand.
Das zweite Wesen war am Boden aufgekommen, pendelte auf und ab und sprang zur rechten Wand hinüber . Die Hornhaken schlugen ins Holz. Die Knochenspeichen seiner Beine grätsc h ten auseinander wie Scherenblätter, ihre Spitzen krallten sich in die Balken. Auf allen vieren blieb es dort hängen,
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