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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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fortgerissen zu werden wie eine Schale – dann fuhr eine Erschütterung durch das gesamte Firmament, ließ die Sterne jenseits der Sandschwaden erbeben und sekundenlang nachvi b rieren . Der Kranich verlor abrupt an Höhe, stürzte zehn, zwanzig Meter in die Tiefe, ehe er sich wieder fing und einen Steinwurf über den Dünen in einen schwankenden Gleitflug überging.
    Der Sandsturm dünnte aus, der Körnerniederschlag wurde faserig, hörte stellenweise ganz auf, so als durchquerten sie Luftblasen inmitten des Unwetters.
    » Was, zum Teufel – « Niccolo blinzelte zum Himmel empor. Die Gestirne bebten noch immer, so als sähe er sie als Reflexion auf einer zitternden Wasseroberfläche. Irgendetwas hatte den Himmel selbst erschüttert, und in jähem Entsetzen fragte er sich, ob sich Lis Warnungen in diesem Augenblick bewahrheiteten: War der letzte Xian erschlagen und das Band zwischen Himmel und Erde zerrissen worden? War es das, was er gerade mit angesehen hatte?
    Dann bemerkte er, dass kaum noch neue Lichtsäulen erglü h ten. Sie schienen jetzt willkürlicher zu entstehen, nicht mehr so präzise gezielt wie zuvor. Dem Kranich fiel es leicht, ihnen auszuweichen, und Niccolo sah einige in großer Entfernung aus der Nacht herabstechen, so als hätte derjenige, der ihn damit treffen wollte, die Kontrolle über sie verloren.
    Die Erklärung war ganz nahe, er spürte sie wie etwas, das unsichtbar über ihm schwebte. Der Kranich krächzte einmal mehr und verstummte. Rechts von ihnen entstand eine neue Lichtbahn, dünner als all die vorherigen, und auch die nächsten, die er weitab von ihrer Flugbahn entdeckte, schienen schmaler zu sein, kaum mehr als Rinnsale aus Licht.
    Unvermittelt überkam ihn Gewissheit. Mondkind hatte ihm erzählt, dass der Aether die Macht besaß, pures Licht auf die Erde herabscheinen zu lassen – aber zu einem Preis: Er musste sich selbst Wunden zufügen, musste sich Löcher reißen, damit das Licht durch sie zu Boden fallen konnte. Es bereitet ihm Schmerzen und es schwächt ihn, hatte sie gesagt. Womöglich bargen Mondkinds Worte die Lösung des Rätsels. Der Aether hatte versucht, auch Niccolo süchtig nach reinem Mondlicht zu machen, aber er war ein zu großes Wagnis eingegangen. Das Netzwerk aus Lichtsäulen, das sich hinter ihnen über die Wüste spannte, waren Verletzungen, die sich der Aether selbst zugefügt hatte, Öffnungen und Risse in der Schale, mit der er die Welt und den Himmel umschloss. Sein maßloser Zorn über Niccolos stetes Entkommen hatte den Aether leichtsinnig gemacht. Die Erschütterung des Firmaments war nichts anderes als sein Schmerzensschrei gewesen, und nicht die Sterne waren erbebt, sondern der Aether selbst. Wie eine Glaskuppel vor dem Zerspringen.
    Niccolo hielt sich vor Schwäche kaum noch auf dem Kranich. Ihm war schlecht von den waghalsigen Flugmanövern. Hinter seinen Augen drehte sich alles, und de r S and hatte seine Haut aufgeraut. Der Aether hatte ihn gejagt – und nicht zu packen bekommen. Niccolo hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange die selbstgeschlagenen Wunden seinen Gegner schwächen würden – aber dass sie es taten, daran bestand kein Zweifel.
    Der Kranich flog wieder in gerader Linie nach Westen, unter einer Kuppel glitzernder Sterne, die jetzt wieder still und stabil in der Schwärze hingen. Die letzten dürren Lichtsäulen lagen nun schon hunderte Meter hinter ihnen, und es entstanden keine neuen mehr.
    Auch der Sturm blieb hinter ihnen zurück, so als sei er b e grenzt auf das Gebiet, in dem das pure Licht die Dünen berührte. Es musste einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sandsturm und dem Angriff des Aethers geben, aber Niccolo dämmerte erst ganz allmählich, dass der Sand ihn gerettet hatte. Die wirbelnden Schwaden hatten das Mondlicht überhaupt erst sichtbar gemacht; ohne sie hätte der Kranich den Strahlensäulen nicht ausweichen können. Und obwohl Niccolo verwirrt und erschöpft war, obwohl sein Magen noch immer rebellierte und sein Herz Purzelbäume schlug, begriff er, dass dies kein Zufall gewesen war. Jemand hatte ihm den Sturm gesandt.
    Immer wieder blickte er zurück und betrachtete das Gewirr aus Lichtbahnen über der Wüste, verteilt über eine Fläche von vielen Kilometern Breite und Tiefe. Von hier aus erschien es aberwitzig, dass er daraus entkommen war, ohne mit dem Mondschein in Berührung zu kommen.
    Nachdenklich tätschelte er dem Kranich den Hals. Wa s w äre geschehen, wenn ihn das Licht getroffen hätte?

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