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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fla n ken des Kranichs und hielt sich so gut er konnte an den Zügeln fest. Sie waren zu lang, um ihm genug Stabilität zu geben, doch bei allen Haken und Kurven, die der Vogel schlug, schien er nie seinen Reiter zu vergessen. Der Sand peitschte in Niccolos Gesicht, und es wurde fast unmöglich, die Augen offen zu halten.
    Noch ein Lichtstrahl fräste durch die Dunkelheit, wurde von den wehenden Sandwolken sichtbar gemacht und gefror zu einer diagonalen Säule. Wie Spinnenfäden spannte sich das gebünde l te Mondlicht über die Wüste und blieb auch dort bestehen, wo Niccolo und der Kranich längst vorüber waren. Als er noch einmal nach hinten schaute, zählte er bereits sechs Strahlen, die vom Mond aus zur Erde fächerten, gleißende Schnitte, die das Firmament in dreieckige Kuchenstücke teilten.
    Ihm blieb kaum Zeit, um über die Bedeutung dieser Ersche i nung nachzudenken. Der Kranich wusste instinktiv, dass sie nicht mit dem flirrenden Mondschein in Berührung kommen durften – das war das Wichtigste. Mit atemberaubenden Schle n kern trug er Niccolo um die Lichtsäulen herum, schoss einmal sogar zwischen zweien hindurch, die plötzlich nebeneinander vor ihnen auftauchten, nah genug, um gleichzeitig beide Flügelspitzen des Vogels zu berühren; der aber kippte einmal mehr in eine seitliche Fluglage, nur für einen Augenblick, bis die Gefahr vorüber war, und doch nicht lange genug, als dass sein Reiter hätte abstürzen können. Mit einem Aufschrei fiel Niccolo zurück in seine Sitzposition, bevor er überhaupt erfassen konnte, dass er gerade den Kontakt zum Rücken des Vogels verloren hatte und für die Dauer eines Atemzuges frei neben dem Tier geschwebt hatte; wirklich klar wurde es ihm erst, als sie sich bereits wieder in der Waagerechten befanden.
    Der Sand war jetzt überall. Er knirschte zwischen Niccolos Zähnen, klebte in seinen Wimpern und in seiner Nase. Die Reibung auf seinen Wangen und auf der Stirn fühlte sich trotz der Nachtkälte heiß an, aber sie war noch nicht stark genug, um ihn ernsthaft zu verletzen. Dass dies ein Sandsturm war, stand außer Frage, aber irgendetwas erschien ihm falsch daran. Erst nach einer Weile erkannte er, was es war: Der Sand kam von oben. Er trieb von Westen heran, fiel dabei aber schräg in die Tiefe wie Regen, statt waagerecht über die Dünen geblasen oder vom Boden aufgewirbelt zu werden wie bei einem gewöhnl i chen Wüstensturm.
    Verwirrt und halb blind blinzelte Niccolo in die Umgebung. Mindestens zehn Lichtfäden spannten sich jetzt vom Mond herab zu den Dünen, verteilt über die letzten tausend oder zweitausend Meter ihrer Flugbahn. Der treibende Sand schien in der Helligkeit zu rotieren wie Rauch, der in einem Glasrohr gefangen war.
    Pures Mondlicht! Mondkind war süchtig danach, seit der Aether sie ihm ausgesetzt hatte. Selbst nachdem Niccolo ihre Worte tausendmal rekapituliert hatte, war er noch immer nicht sicher, dass er sie wirklich verstanden hatte. Das Mondlicht hatte sie abhängig gemacht – und nun zwang der Aether sie, ihm zu dienen.
    Hatte er dasselbe mit ihm vor? Niccolo hatte nicht geahnt, dass er so wichtig für den Aether war, nicht einmal, dass ihr Gegner ihn überhaupt wahrnahm. Selbst jetzt, da alles dafür sprach, konnte er es nicht glauben.
    Ein weiterer Lichtstrahl. Und noch einer.
    Mehr Sand. Noch mehr Sand.
    Der Kranich glitt zwischen den flirrenden Bahnen dahin wie eine Falke, der sich in den Säulenwald einer Kathedrale verirrt hatte. Immer wieder stieß er jetzt spitze Schreie aus, während Niccolo ihm Kommandos zurief, die das Tier vermutlich gar nicht hörte und auch nicht nötig hatte. Sein Flug war eine einzige Verkettung von Reflexen.
    Die Lichtstrahlen kamen ihnen nun näher, standen enger beieinander. Bald überzogen sie die Wüste als majestätisches Gitter aus Mondschein, so als hätte jemand ein Sieb über den Himmel gestülpt, durch dessen Löcher das Licht zur Erde herabschien. Wann immer Niccolos Blick nach hinten fiel – und das geschah jetzt nur noch, wenn der Kranich eine besonders scharfe Kurve flog –, sah er die Welt durch ein Raster glutwe i ßer Streben.
    Ein unterschwelliges Donnern ertönte, wie von einer Flutwelle hinterm Horizont. Dann erklang ein saugender Laut, gefolgt von zwei, drei Sekunden absoluter Stille – selbst der Sandsturm schwieg. Der wummernde Pulsschlag in Niccolos Ohren verstummte, sogar das Rauschen der Kranichschwingen. Die Wirklichkeit selbst schien für einen Augenblick von der Welt

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