Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
rotes Wabern zum Firmament aufsteigen. Auch die Wolke n insel hatte Wüsten überquert, aber Niccolo hatte beinahe vergessen, wie klar der Sternenhimmel in solchen Gegenden war. Schon stand der Mond am Nachthimmel, hell genug, um den Schatten des Kranichs unter ihnen über den Sand huschen zu lassen. Es wurde empfindlich kalt, und Niccolo wünschte, er hätte sich in Tieguais Hütte besser ausgerüstet als nur mit einer Felljacke. Sie war nicht besonders dick und ganz sicher nicht für einen Flug und solche Geschwindigkeiten gedacht; der Nach t wind fegte durch die Nähte und legte sich wie ein Eispolster zwischen Niccolos Haut und die Jacke.
Er verengte die Augen in der Hoffnung, am westlichen Hor i zont mehr als nur Dünen und vereinzelte Felsformationen zu erkennen. Irgendwo, jenseits der Wüste Taklamakan, erhoben sich die Himmelsberge, aber er war hunderte Kilometer von dort entfernt und entdeckte nicht den winzigsten Gipfel in der Ferne.
Erneut sah er ein Lager aus zehn oder fünfzehn Zelten zw i schen den Dünen, ein Nomadenstamm, der die Taklamakan durchquerte. Dass die Spuren der Menschen und Kamele in die Richtung führten, aus der er selbst kam , wertete er als gutes Zeichen: Auch sie benötigten Wasser und waren deshalb wahrscheinlich unterwegs zur selben Karawanserei, die auch er suchte. Die Richtung stimmte also. Der Kranich kannte den Weg.
Weitere Stunden vergingen. Längst war die letzte Sonnenröte abgeklungen, und tiefschwarze Nacht klaffte zwischen den Sternen. Der Mondschein färbte die Wüste grau, so als wären alle Farben im Sand versickert wie Wasser nach einem Rege n schauer.
Niccolo döste vor sich hin, als ihm mit einem Mal Sandkörner ins Gesicht wehten. Einen Herzschlag lang glaubte er, der Kranich stürzte ab. Er schlug die Augen auf, kniff sie aber gleich wieder zusammen, als der Sand unter seine Lider drang. Zugleich erfasste ihn ein kühler Windstoß, noch nicht sehr stark, aber er ahnte, was das bedeutete. Ein Sandsturm! Gerade das hatte ihm noch gefehlt. Er gab dem Kranich mit den Zügeln zu verstehen, er solle höher fliegen. Es wurde kälter, je weiter sie sich vom aufgeheizten Dünenmeer entfernten.
Seine Hände ballten sich um die Zügel zu Fäusten. Er schloss die Augen und beugte sich weit nach vorn, in der vagen Hof f nung, dass sie das Herz des Sturms überfliegen könnten und der Sand sie nicht zu Boden zwang. Das Schmirgeln auf der Haut wurde immer unangenehmer.
Ein plötzlicher Ruck ließ ihn auffahren. Der Kranich stieß ein helles Krächzen aus, und einen Moment lang war es, als geriete sein Flügelschlag aus dem Rhythmus. Irgendetwas hatte das Tier erschreckt.
Niccolos verkniffener Blick fächerte über die Wüste unter ihnen, aber im Mondlicht und durch die treibenden Sandschw a den erkannte er nichts. Das monotone Auf und Ab der Dünen wurde nur von den Schatten seichter Täler durchbrochen, die bei Nacht dunkler und tiefer wirkten als im sonnendurchglühten Tageslicht.
» Was ist denn los? «, fragte er den Kranich und bekam sofort Sand in den Mund. Der Vogel schwankte noch immer leicht, mal zu dieser, mal zu jener Seite, wie ein aus dem Takt gerat e nes Pendel, das erst wieder zu seiner alten Bahn zurückfinden musste.
Noch ein Kreischen – und plötzlich kippte der Kranich in eine so abrupte Kurve, dass Niccolo um ein Haar den Halt verloren hätte.
» Heh! « , stieß er aus. » Was soll denn – «
Er verstummte. Sah über die Schulter, um ganz sicher zu gehen. Und traute seinen Augen noch immer nicht recht, selbst als er den Grund für die Aufregung des Vogels erkannte.
Hinter ihnen, dort wo sie eben noch entlanggeflogen waren, strahlten zwei Bahnen aus Licht vom Himmel herab. Als Säulen aus weiß glühenden Sandkörnern standen sie schräg über der Wüste, unten am Boden breiter als hoch oben, wo sie sich scheinbar ins Endlose fortsetzten, durch die Schwärze hinauf zum – Niccolo keuchte.
Zum Mond!
Der Kranich schrie zum dritten Mal, so als hätte er die nächste Lichtsäule kommen sehen, bevor sie überhaupt aus der Nacht herab auf sie niederstach. Völlig unvermittelt erschien sie vor ihnen, und nur ein weiteres haarsträubendes Manöver bewahrte sie davor, mitten hineinzurasen. Der Vogel warf sich nach links, die Schwingen starr ausgebreitet, und wich dem Licht im letzten Augenblick aus. Wäre es ein Baum gewesen, den er verfehlte, so hätte sein Bauchgefieder die Rinde gestreift.
Niccolo brüllte nun ebenfalls, presste die Beine um die
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