Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
besiedelt waren – die großen Städte lagen viele Tagesreisen östlich von hier –, doch nun kam es ihm manchmal vor, als durchquerten sie eine unwirkliche Trau m landschaft, in der nichts lebte außer dem Kranich und ihm selbst.
Längst zermürbte ihn der eintönige Ritt auf dem Riesenvogel schlimmer als jede körperliche Anstrengung . Mit jeder Stunde fiel es ihm schwerer, sich auf die wirklich wichtigen Gedanken zu konzentrieren. Dabei hatte er alle Zeit der Welt zum Nac h denken, während er nichts anderes tat, als sich festzuhalten und abwechselnd nach vorn zum Horizont oder unter sich in die Tiefe zu starren.
Ein einziges Mal hatte er in der Wüste einen Zug von Nom a den entdeckt, winzige Menschenpunkte und ihre Kamele inmitten des endlosen Nichts aus Sand. Dann und wann ragten zerklüftete Felsgrate aus den Dünen wie Gerippe urzeitlicher Ungeheuer. Seine Wasservorräte gingen noch nicht zur Neige, doch am Tag setzte ihm die Hitze zu, und allein der Anblick der Wüste machte ihn durstig.
Nun aber, in der Abenddämmerung, sorgte er sich wegen der Kälte, die mit der Dunkelheit einherging. Schon jetzt rebellierte sein Körper gegen den plötzlichen Wechsel . Dazu kam, dass ihn der Kampf gegen sein Selbstmitleid und sein schlechtes Gewi s sen allmählich mürbe machte.
Drei Dinge beschäftigten ihn Tag und Nacht, aber immer wenn er gerade glaubte, eines davon klar genug erfassen zu können, schob sich eine andere Sorge in den Vordergrund und stürzte ihn neuerlich in Verwirrung, Furcht und Schrecken.
Es hatte lange gedauert, ehe er sich endlich eingestehen kon n te, dass er sein Volk verraten hatte. Er war losgezogen mit dem Auftrag, den Atem eines Drachen einzufangen und zurück zur Wolkeninsel zu bringen. Er hatte nicht nur versagt, sondern sich sogar bewusst gegen die Erfüllung seiner Mission entschieden. Manchmal erinnerte er sich schmerzlich an die Worte Alessias, der Tochter des Herzogs: Sie hatte ihn gewarnt, dass er das Schicksal des Wolkenvolks aus den Augen verlieren würde, je länger und weiter er fort war. Damals hatte er das abgestritten . Auch darin hatte er sich geirrt.
Dann war da Nugua. Dass er nicht wusste, was aus ihr gewo r den war, ja, nicht einmal ahnte, wohin es sie verschlagen hatte, war furchtbar. Hatten sie und Li den Drachenfriedhof entdeckt? Gab es dort einen Weg, den Fluch der Purpurnen Hand aufz u halten? Und was war aus Li geworden? Mondkinds Andeutung, der Aether könne ihn nicht mehr spüren, ließ Schlimmes befürchten.
Schließlich die schrecklichste Frage von allen: War Nugua überhaupt noch am Leben? Immer, wenn Niccolo sich die mögliche Antwort vor Augen führte, stieß sein Denken an eine Mauer; sein Verstand weigerte sich, die letzte Konsequenz zu akzeptieren. Die Möglichkeit, dass Nugua tot sein könnte, schnürte ihm die Kehle zu und trieb ihm Tränen in die Augen. Seine Glieder wurden schwer, sein ganzer Körper fühlte sich an wie geschmolzenes Wachs.
Obwohl er sich keine Ruhe gönnte und der Kranich längst am Rande der Erschöpfung sein musste, hatte er nicht das Gefühl, irgendetwas zu tun, das wirklich einen Zweck erfüllte. Nichts von all dem nutzte irgendjemandem. Er half weder Nugua, noch dem Wolkenvolk, und erst recht nicht – Er schluckte. Holte tief Atem.
- erst recht nicht Mondkind.
Sie hatte sieben Xian getötet, einen vor seinen Augen . Wenn überhaupt hätte das seine Liebe zu ihr zerstören müssen. Doch nicht einmal die Wahrheit war stärker als der Bann, der sie aneinanderfesselte. Wen kümmerte schon, dass ein Zauber der Auslöser gewesen war? Er liebte sie, allein das zählte.
Dann war da die Wunde, die sie sich selbst mit Silberdorns Klinge zugefügt hatte. Die Götterwaffen der Lavaschmiede vermochten einen Xian zu töten. Sie hatte das gewusst, als sie sich das Schwert in die Seite gebohrt hatte . Wollte sie wirklich sterben? War das der einzige Ausweg?
Ganz gleich, in welche Richtung sich seine Gedanken bewe g ten, überall erwartete ihn nur noch größere Hoffnungslosigkeit. Er hätte der Retter des Wolkenvolks sei n s ollen, und was war nun aus ihm geworden? Er jagte auf einem Riesenkranich über diese Wüste hinweg, auf der Suche nach einem Unsterblichen, den er nicht schützen konnte, vielleicht nicht einmal wirklich schützen wollte, wenn es sein Tod war, der Mondkind endlich Frieden brächte.
Das Dünenmeer erstreckte sich unter ihm in alle Richtungen. Die Sonne war jetzt hinter dem Horizont verschwunden und ließ ein
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